Archäologische Neufunde zeugen von einer „bewegten“ Heimat

Die Ausstellung "Bewegte Zeiten" zeigt überregionale Vernetzung als festen Bestandteil der Gesellschaft

 

Neben der Migration größerer Gruppen hat die archäologische Forschung in den letzten Jahren den Fokus verstärkt auf den Nachweis individueller Mobilität gerichtet. Im Zusammenspiel mit archäologischen Funden haben dabei neue naturwissenschaftliche Verfahren wie die Untersuchung von Isotopen in Knochen und Zähnen neue Erkenntnismöglichkeiten eröffnet. Immer deutlicher tritt uns vor Augen, dass zu allen Zeiten eine relevante Gruppe von Menschen auch über weite Strecken hinweg unterwegs gewesen ist. Die Gründe dafür sind zu allen Zeiten so vielfältig wie heute und oft dieselben. Menschen haben sich dauerhaft oder auf Zeit von ihrem Geburtsort entfernt, um Arbeit nachzugehen, z. B. in mittelalterlichen Bauhütten, um Militärdienst zu leisten wie im römischen Militär oder um eine Ehe einzugehen. Menschen sind aber auch unfreiwillig unterwegs gewesen: Sie wurden z. B. in der Römer- und Wikingerzeit versklavt, wichen vor Klimaveränderungen wie der steinzeitlichen Kälteperiode zurück oder wurden religiös verfolgt, wie das Beispiel eines geflüchteten armenischen Bischofs in Passau zeigt. Der Blick auf diese Einzelschicksale macht deutlich, dass das Bild einer kontinuierlichen und konstanten Bevölkerung, die über lange Zeiträume immer am gleichen Ort wohnt, ziemliche Risse zeigt.

 

Das zweite Thema der Ausstellung, Handel und Austausch, ist auf das Engste mit der Mobilität der Menschen verknüpft. Die Wege zu Wasser und zu Land sind auch Wege des Handels gewesen. Zweifelsohne hat sich Warenhandel weltweit heute potenziert. Die Schlussfolgerung, dass Fernhandel in früheren Zeiten nur eine sehr geringe Rolle gespielt hat, ist dennoch nicht zutreffend. Deutlicher treten uns die seit der Jungsteinzeit stark ausgeprägten Austauschbeziehungen vor Augen, die mit dem Beginn der Bronzezeit neue Dimensionen erreichten. Kupfer und Zinn wurden nun in großen Mengen benötigt und mussten weit gehandelt werden. Wie ausgereift diese Grundlagen für Fernhandel bereits vor 3.600 Jahren gewesen sind, zeigt uns der Neufund eines großen Kupferbarrenhortes im bayerischen Oberding. Der Fund von fast 800 (!) genormten Barren ist an sich bemerkenswert. Jeder dieser Barren wiegt um die 100 Gramm, die in Zehnerbündeln zu je einem Kilo aufbewahrt worden sind – ein spektakulärer früher Nachweis der Anwendung des Dezimalsystems, das damals somit schon als Grundlage für Handel und Austausch gedient hat. Mit der genormten Metallmenge wurde eine verlässliche Wertbasis für den Handel geschaffen. Der Bergbau, die Weiterverarbeitung des Metalls und der Handel verlangten bereits ein hohes Maß an arbeitsteiliger Gesellschaft und Mobilität.

 

In kaum einer anderen Zeit ist die Dynamik, die ein weitgespannter Handel auslöst, so deutlich zu fassen wie in Europa in der Zeit zwischen 1150 und 1250. In der Ausstellung wird dies an der Entstehung der Stadt Lübeck deutlich. Die große Ausgrabung im dortigen Gründungsviertel belegt ein sehr erfolgreiches Investitionsprojekt. Der Stadtherr lockte die Neubürger aus Westfalen, dem Rheinland, Flandern und vielen weiteren Gegenden mit günstigen Konditionen an. Nahezu alle Bewohner der neu gegründeten Stadt waren Zugereiste.

 

Im Themenbereich der Innovation und des Ideentransfers wird fassbar, dass unsere technische Entwicklung – ebenso wie die kulturelle – ohne die intensiven Austauschprozesse in Europa nicht vorstellbar ist. Dabei ist der Begriff Europa niemals als statischer geographischer Begriff zu betrachten. In der Bronzezeit sind die Austauschprozesse mit den Hochkulturen im Zweistromland und am Nil von großer Wichtigkeit. Die Himmelsscheibe von Nebra zeugt davon. Ihre Konzeption kann ohne den Bezug zu den astronomischen und kalendarischen Kenntnissen dort nicht verstanden werden. Für die Römerzeit wird deutlich, wie wichtig der gesamte Raum um das Mittelmeer nicht nur für den Handel, sondern besonders für die kulturellen und religiösen Innovationen ist. Das Christentum, aber auch die orientalischen Kulte des Mithras oder des Jupiter Dolchineus, die mit den Angehörigen des römischen Militärs im ganzen Reich verbreitet wurden, sind bedeutende Zeugnisse dieses Prozesses.

 

„Bewegte Zeiten“ – der Titel entspricht dem Bild der Geschichte, das sich in dieser Ausstellung auch im Bewusstsein der Besucher neu zu formen beginnt. Unsere Geschichte ist ohne Migration und Mobilität, ohne Austausch und Ideentransfer, aber auch ohne Konflikte so nicht möglich. Für eine Positionsbestimmung in der Gegenwart ist es hilfreich, sich in diesem Sinne den Erfahrungen der Menschen in unterschiedlichsten historischen Situationen neu zu stellen. Wenn wir die Vielfalt der Geschichten unserer Heimat erkennen und anhand der baulichen und archäologischen Zeugnisse unserer nächsten Umgebung erzählen, dann schaffen wir Anknüpfungsmöglichkeiten für die Vielfalt der Menschen mit ihren Lebensgeschichten, die heute an ihrem Wohnort Heimat verspüren oder noch suchen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.

 

Matthias Wemhoff
Matthias Wemhoff ist Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin und Landesarchäologe von Berlin.
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