Faisal Hamdo und Theresa Brüheim - 27. Mai 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Exilkultur

Von Altenheimen, Integrationspillen und Formularen


Der Syrer Faisal Hamdo im deutschen Exil

Im vergangenen Jahr erschien „Fern von Aleppo: Wie ich als Syrer in Deutschland lebe“. Auf rund 250 Seiten schildert Faisal Hamdo sein Leben als Syrer im deutschen Exil. Hier wurde der Physiotherapeut zum Schriftsteller. Theresa Brüheim spricht mit ihm über das Leben im Exil, die deutsche Sprache und die gebliebene Hoffnung, auf ein Syrien, das irgendwann wieder schöner als zuvor sein wird.

 

Theresa Brüheim: Herr Hamdo, Sie sind studierter Physiotherapeut aus Aleppo in Syrien. Im Exil in Deutschland sind Sie zum Buchautor geworden. Wie kam es dazu?

Faisal Hamdo: Zunächst muss ich sagen: Mein Beruf im Gesundheitswesen ist und bleibt mein geliebter Hauptberuf, in dem ich auch zurzeit arbeite. Aber das Schreiben machte mir auch schon immer Spaß. Jetzt im Exil bzw. in meiner zweiten Heimat genauso wie früher in Aleppo fühle ich mich in der Welt der Buchstaben zu Hause – trotz des Verlustes meiner Vaterstadt und einiger geliebter Menschen.

 

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich das Bedürfnis, das Erlebte in Syrien aufzuschreiben. Während des Krieges in Syrien habe ich ehrenamtlich in provisorischen Krankenhäusern gearbeitet und viel erlebt. Ich hatte und habe immer noch die Bilder der pausenlosen Bombardierungen, der Zerstörung und der Angriffe im Kopf.

 

Kurz nach meiner Ankunft in Deutschland habe ich Minijobs ausgeübt und Deutschkurse besucht. Als ich schließlich in einem Altenheim und danach in der Klink arbeitete, konnte ich zahllose Gespräche mit deutschen Freunden und Helfern, mit Arbeitskollegen sowie Patienten führen. Wir alle haben voneinander profitiert. In vielen Gesprächen spürte ich ein starkes Interesse, mehr über mich, über das Leben in Syrien und über meine Kultur zu erfahren. Darüber hinaus habe ich gemerkt, dass ich fast nichts über Deutschland wusste. Deswegen habe ich mich intensiv mit der Geschichte Deutschlands und mit den kulturellen Unterschieden beschäftigt.

 

Durch die Gespräche und meine Erlebnisse in Deutschland habe ich festgestellt, dass es ein ganz anderes Buch werden müsste, ein Buch über die Zeit nach dem Ankommen in Deutschland, über die Schwierigkeiten, mit denen man hier zu kämpfen hat, über Missverständnisse und interessante kulturelle Unterschiede. Ich habe immer versucht, zwischen der deutschen und der syrischen Kultur Vergleiche zu ziehen.

 

All dies war für mich Anlass, mein Buch zu schreiben. Das Ziel meines Buches ist es, gegenseitiges Verständnis aufzubauen, es weiter zu entwickeln und dadurch Vertrauen zu stärken.

 

Ich muss Ihnen ein Kompliment machen, Herr Hamdo, Sie sprechen mittlerweile perfekt Deutsch. Würden Sie sagen, dass die deutsche Sprache der Schlüssel zur Integration ist?

Ja, das sage ich immer. Das ist mein Lieblingssatz: Die Sprache ist der Schlüssel zu allem. Ohne Sprache könnten wir dieses Gespräch nicht führen. Eine erfolgreiche Integration ohne Sprache kann nicht funktionieren. Einige behaupten es. Denn es gibt ja auch Menschen, die in Deutschland leben, aber kein Deutsch sprechen können. Sie kommen z. B. auf Englisch klar. Aber um dieses Land aktiv mitgestalten zu können, braucht man die Sprache unbedingt. Die Sprache halte ich für extrem entscheidend und finde, sie ist das Wichtigste.

 

Ich stehe hier aber nicht als Experte der Sprachwissenschaft oder der Integration, sondern als jemand, der das gelernt hat und immer noch lernt. Meine Eltern haben mir beigebracht jeden Tag ein Ziel, einen Traum zu haben. Als ich in Deutschland ankam, hatte ich ein einziges Ziel vor meinen Augen: Ich wollte diese Sprache rasch in sechs Monaten lernen. Leider habe ich versagt. Ich lerne immer noch Deutsch. Schon Oscar Wilde hat gesagt: „Das Leben ist zu kurz, um Deutsch zu lernen“. Schwierig war, dass wir in Syrien, einem arabischen Land, von rechts nach links schreiben. Es handelt sich also um eine andere Schrift und eine andere Schreibrichtung, natürlich auch um eine vollkommen andere Grammatik. Deutsch ist keine einfache Sprache. Im Deutschen gibt es die Komposition oder die Wortzusammensetzung. Man kann aus mehreren Wörtern ein neues Wort bilden und manchmal erfinden. In meinen ersten Monaten in Deutschland bereiteten mir die einfachsten Wortzusammensetzungen Schwierigkeiten: Welches Wort kommt zuerst? Ich wusste es nicht. Aus Kaffeemaschine wurde Maschinenkaffee. Ich kann beides sagen, aber jedes Wort hat eine andere Bedeutung.

 

Daran müssen wir uns erst gewöhnen. Das ist eine echt mühsame Umstellung. Als die Freunde mich das erste Mal ein arabisches Buch lesen sahen, neckten sie mich: „Faisal, du hältst das Buch falsch rum.“ Ich neckte zurück: „Nein ihr tut das, ich halte es richtig herum“.

 

Mir hat es sehr geholfen, dass ich mich mit der deutschen Kultur beschäftigt habe. Ich hatte Interesse daran, vieles über Deutschland und über dessen Geschichte zu wissen. Z. B. habe ich mir alle Sketche von Loriot angeguckt, nicht nur, um darüber lachen zu können, sondern auch, um die Sprache und über die damalige Gesellschaft und ihre Entwicklung zu lernen.

 

Darüber hinaus ist Politik mein Steckenpferd. Daher wollte ich unbedingt alles über die Politik dieses Landes wissen, in dem ich lebe. Vielleicht genieße ich es deswegen, Menschen zuzuhören, die ein gepflegtes, fast altertümliches Deutsch sprechen. Wenn ich eine Talkshow sehe, achte ich manchmal mehr auf die Grammatik als auf den Inhalt der Diskussion. Warum hat der oder die den Dativ anstelle des Genitivs benutzt? Dasselbe gilt für meine Steckenpferde Konjunktiv 2, Futur 2 und Doppeltes Plusquamperfekt. Gern sehe ich Filmaufnahmen ehemaliger Bundestagsdebatten aus den 1960er oder 1970er Jahre, in denen z. B. politische Größen wie Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß ihre Wortgefechte führten. Das war eine sehr spannende politische Epoche, in der ein herrliches Deutsch gesprochen wurde. Gäbe es eine Integrationspille, die wir Einwanderer schlucken sollten, dann sollte sie auf jeden Fall den Genitiv und den Konjunktiv 2 enthalten.

 

Ich habe viel über die Geschichte Deutschlands recherchiert, die sehr gute und sehr schlechte Zeiten hatte. Wenn ich mir die Bilder von Berlin im Jahre 1945 angucke, muss ich sofort an die jetzigen Bilder in Aleppo denken. Um ehrlich zu sein, gibt mir das Hoffnung, dass es auch irgendwann zu einem Ende kommt und wir Syrien wiederaufbauen können.

Sie beherrschen den Schlüssel zur Integration und Teilhabe, die deutsche Sprache, hervorragend. Gibt es dennoch Herausforderungen der Integration, die sich Ihnen stellen?

Meines Erachtens ist die Sprache die größte Hürde. Aber was ich unbedingt sagen möchte: Die Hilfsbereitschaft vieler Deutschen ist etwas, das nicht vergessen werden darf, und zwar ganz gleich, ob die Hilfe von Regierungsseite oder aus der Zivilgesellschaft kam und kommt. Dadurch konnten viele Geflüchtete die Hürde der Sprache überwinden und Fuß auf dem Arbeitsmarkt fassen. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist das Wichtigste.

 

Vor Kurzem kam ich nach einem langen Tag auf der Arbeit nach Hause. Die Sonne schien, ich saß auf dem Balkon und sah unten zwei Gartenarbeiter. Die arbeiteten hart und es war sehr heiß. Ich habe von oben gesehen, dass sie nichts zu Trinken dabei hatten. Da habe ich mich so verhalten, wie ich es in Syrien auch getan hätte: Ich ging zu ihnen, habe mich vorgestellt und wollte ihnen etwas zu trinken anbieten. Da kam erstmal eine negative Reaktion bei mir an: „Nein, danke“ haben sie geantwortet. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich angegriffen gefühlt haben. In Syrien hätten die Gartenarbeiter sich sehr gefreut und das Angebot dankend angenommen. Ich erwarte keinen Dank, aber mir fällt es in Deutschland ein bisschen schwer, den Kontakt mit anderen, auch mit Nachbarn, aufzunehmen. Das ist vielleicht eine Herausforderung. Aber weder die Deutschen sollen so sein wie ich, noch ich soll so sein wie die Deutschen.

 

Für mich bedeutet gelungene Integration, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Sie bedeutet die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses, wie man in der Gesellschaft zusammenlebt. Dabei sollen Hürden abgebaut werden. Ein Beispiel: Was geflüchteten Syrern große Schwierigkeiten bereitet, ist die „Unzumutbarkeit der Passbeschaffung“. Neben vielen anderen Schwierigkeiten werden sie immer dazu gezwungen, einen syrischen Pass zu erwerben. Betroffen sind Tausende. Das syrische Regime verdient damit Millionen, die es sich aus Deutschland holt. Um einen neuen Pass zu bekommen, müssen Syrer in der Botschaft in Berlin zwischen 300 und 800 Euro zahlen. Ich halte das für eine unzumutbare Härte.

 

Auf Drängen des Bundesinnenministeriums wird ein deutscher Passersatz nicht mehr ausgestellt. Dadurch sind viele Syrer in ihrer Reisefreiheit eingeschränkt, wie es früher nur in der DDR üblich war. Solche Hürden bei der Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt müssen unbedingt abgebaut werden.

 

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass eines der ersten Wörter, die Sie gelernt haben, „Altenheim“ war. Wie kam es dazu?

Zu Beginn habe ich als Pflegeaushelfer in einem Altenheim gearbeitet. Wenn ich Altenheim sage, meine ich politisch korrekt natürlich Seniorenheim. Es war eine Herausforderung für mich zu sehen, wie diese Menschen, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut haben, jetzt in Seniorenheimen leben. Viele genießen zwar auch das Leben im Seniorenheim. In Syrien habe ich die Pflege anders kennengelernt: Als ich ein Kind war, haben wir unseren Großvater zu Hause gepflegt. Als mein Großvater mit 90 bei uns zu Hause starb, war er schon ziemlich „durch den Wind“. Opa bekam seinen eigenen Raum. Alle haben mitgeholfen und das hat gut funktioniert. Das waren entweder meine älteren Geschwister, meine Eltern, eine Tante oder ein Onkel. Unser Vater hat uns erklärt, dass Opa durch den Wind sei und unsere Hilfe brauche. Das war eine Selbstverständlichkeit, ein ungeschriebenes Gesetz, dass unsere Familie unseren Großvater zu Hause pflegt. Opa bekam alles mit, was uns bewegt hat und war in den Tagesablauf eingebunden. Auch wir Kinder erfuhren, was Pflege bedeutet. Wir erlebten unmittelbar, wie der Generationenvertrag funktioniert.

 

Andererseits kann die Pflege innerhalb der eigenen Familie nicht so professionell erfolgen. Hier in Deutschland hingegen kann die Begleitung im Altenheim professioneller erfolgen. Das habe ich erlebt, als ich im Altenheim arbeitete.

 

Dennoch war es für mich ein Kulturschock. Die ersten Fragen bei meinem Einsatz im Pflegeheim, die ich mir gestellt habe, waren: Sind die Menschen hier nur zu Besuch? Bleiben sie nur übers Wochenende? Wann gehen sie nach Hause? Meine Arbeitskollegen haben mich dann „aufgeklärt“.

 

In Syrien benutzen wir das arabische Wort für Altenheim kaum. In Aleppo, eine Stadt, die vor dem Krieg über drei Millionen Menschen beherbergte, gab es nur drei sogenannte Seniorenhäuser. Hier in Deutschland habe ich mich auch gefragt: Ist dieses Seniorenheim, in dem ich arbeitete, das einzige in Hamburg? Es stellte sich heraus, dass dies eins von vielen in diesem Stadtteil ist.

 

Was planen Sie für Ihre Zukunft? Möchten Sie noch weitere Bücher schreiben?

Physiotherapie ist mein geliebter Hauptberuf, wie ich zu Beginn sagte. Ich versuche mich beruflich weiterzuentwickeln. Ich besuche zurzeit einen Leitungskurs. Außerdem möchte ich meine zweite Heimat, Deutschland, aktiv mitgestalten. Und natürlich gibt es das Ziel, dass ich in Syrien etwas ändern möchte, wenn der Krieg in Syrien zum Ende kommt. Aus Deutschland möchte ich die Pünktlichkeit und die Formulare mit nach Syrien nehmen. Sie sagen zwar: „Von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare.“ Aber das ist eine gute Sache. Bei uns ist man immer auf die Laune des Beamten angewiesen und wird dann oft zurückgewiesen. Aber hier in Deutschland kann man, auch wenn ein Beamter schlechte Laune hat, immer Formulare bekommen. Man kann sie ausfüllen und den Antrag erneut stellen. Im schlimmsten Fall kann man einen Widerspruch einlegen. Das ist in Syrien nicht möglich. Was ich auch liebend gern in Syrien ändern möchte, ist, dass wir dort Demokratie und Frieden haben. Die deutsche Geschichte zeigt, es braucht Zeit, aber dann kann das Land noch schöner als vorher werden.

 

Noch schreibe ich nicht, aber ein zweites Buch wird kommen. Es wird sich um kulturelle Unterschiede innerhalb Deutschlands drehen.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2019.


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