Philipp Meuser und Jennifer Tobolla - 4. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kultur- & Kreativwirtschaft in Afrika

IT-Hochtechnologie zwischen Feldern und Feuchtsavanne


In Burkina Faso ist eine regionale Hochschule für 500 Studierende entstanden

Für die 100 Kilometer Strecke von Ouagadougou ins westlich gelegene Koudougou braucht der Überlandbus gut vier Stunden. Entlang der Rue nationale 1 führt der Weg vorbei an den typischen Familiengehöften, deren Grundriss oval angeordnete Einraumhütten zeigt, in deren Zentrum nachts das Vieh eingepfercht wird. Typisch für die westafrikanische Feuchtsavanne sind hier auch die Straßendörfer, die sich linear an den Transportadern entwickelt haben. So unterschiedlich die baulichen Strukturen auch sind – ein Element gibt jeder Siedlung einen typischen Charakter. Fast immer dominiert ein großer alter Baum ihr Zentrum. Handelt es sich bei diesem schattenspendenden Baum um einen Baobab oder einen Kopak, scheint es, als hallten die zahllosen Dorfgespräche vorangegangener Generationen immer noch nach. Ein solcher Baum als Treffpunkt der Dorfgemeinschaft – von Wahllokal zu Standesamt, von Schule zu Parkbank, von Diskussionsstätte zu Bühne – ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Kultur der Mossi, die in diesem Teil Burkina Fasos die ethnische Mehrheit stellen.

 

Da die Straße über Poa gerade ausgebessert wird, muss der Bus den Umweg über Sabou nehmen. Koudougou erreichen wir daher von Süden, fahren an den eingeschossigen Hütten aus Lehm und Wellblech vorbei und erreichen das Stadtzentrum am Bahnhof. Von urbanen Strukturen kann man hier noch nicht sprechen, eher von Transiträumen einer Bevölkerung, die sich mit einem jährlichen Wachstum von 2,7 Prozent und einer jährlichen Urbanisierungsrate von fünf Prozent in einem beispiellosen Transformationsprozess befindet. Für die Hauptstadt Ouagadougou und die zweitgrößte Stadt des Landes, Bobo- Dioulasso, prognostiziert UN-Habitat sogar eine Verdoppelung der Bewohner in den kommenden zehn Jahren. Auch Koudougou wächst kontinuierlich. Die 160.000-Einwohner-Stadt (Stand 2019) liegt an einer der wenigen Eisenbahnverbindungen, die von den Franzosen zu späten Kolonialzeiten erbaut wurden, und seit 1952 das Hinterland erschließen. Von Abidjan verlaufen die Gleise über Bobo-Dioulasso und Koudougou bis nach Ouagadougou.

 

Architektonische Landkarte

Architekturprojekte aus Westafrika werden nicht oft zum Gesprächsthema sowohl für die internationale Architekturszene als auch für eine breitere Öffentlichkeit. Das gilt insbesondere für Regionalstädte, die auch innerhalb des subsaharischen Afrikas marginalisiert sind. Auf der architektonischen Landkarte hat sich Koudougou allerdings schon 2005 mit dem Zentralmarkt einen Eintrag verschafft, der mit Unterstützung durch eine Schweizer Entwicklungsorganisation errichtet und von der Aga Khan Stiftung für seinen vorbildlichen Typenentwurf ausgezeichnet wurde. Zehn Jahre später folgte das Lycée Schorge von Francis Kéré. Diese Bildungseinrichtung ist seitdem kontinuierlich erweitert worden und firmiert heute zusätzlich unter dem Namen Burkina Institute of Technology (BIT).

 

Das kleine Stück Land im Süden Koudougous, das für die Region ein Hoffnungsschimmer im Kampf gegen die Perspektivlosigkeit der Jugend geworden ist, geht auf eine rein private Initiative zurück. Die Münchnerin Susanne Pertl, familiär mit der namhaften Unternehmensberatung Stern Stewart & Co verbunden, hat in Burkina Faso bereits ein gutes Dutzend Schulen errichtet und an den Staat übergeben. Mit ihrem jüngsten Projekt änderte sie ihre Strategie und übernahm auch den Betrieb der Bildungseinrichtung. Das Lycée Schorge eröffnete 2015, um jungen Menschen in Middle und High School eine Hochschulzugangsberechtigung zu ermöglichen. 2018 eröffnete nach nur einem Jahr Vorbereitung und Lizensierung die Hochschule mit einem dreijährigen Bachelor-Programm für IT-Spezialisten. Erst kürzlich zeichnete das burkinische Bildungsministerium das BIT als beste Hochschule des Landes aus – wohl auch, weil das Female Empowerment zur Philosophie der Einrichtung gehört. Die Hälfte der 250 Schüler und 300 Studierenden sind weiblich. Vor dem Hintergrund, dass das westafrikanische Land muslimisch geprägt ist, zeigt sich die in Burkina Faso strenge Trennung von Staat und Religion. Als weiteren Schritt, Jugendliche zu qualifizieren und ihnen eine Zukunftschance zu geben, stehen nun auch Kurse in Entrepreneurship im Fokus. Der Dreischritt Schule–Studium–Berufseinstieg liegt hier in einer erfahrenen Hand. Schließlich verfügt der Träger der Institutionen über weltweite Kontakte in die oberen Etagen der Wirtschaftswelt.

 

Es scheint, als habe Susanne Pertl bei der Wahl ihres Architekten einen intuitiven Glücksgriff gemacht. Denn seit 2015 hat Francis Kéré eine weitere Stufe der weltweiten Bekanntheit erlangt. Sein Ruhm trägt inzwischen dazu bei, dass Schule und Universität eine noch breitere Aufmerksamkeit erlangen. Auch wenn es kaum intendiert war, eine Art Markenarchitektur in der Weite der westburkinischen Savanne zu setzen, gehört der Ort längst auf die Landkarte subsaharischer Architektur. In fußläufiger Entfernung hat Kéré ein Waisenhaus geplant, das ebenfalls sehenswert ist.

 

Ein Campus mit drei Elementen

Der Campus besteht inzwischen aus drei weithin sichtbaren Elementen: dem ringförmigen Gymnasium, den gestaffelten Modulen der Universität und einem zentralen Turm mit der IT-Infrastruktur. Ein Regenwasserauffangbecken, ein Brunnen und eine eigene Photovoltaik-Anlage sorgen dafür, dass die Anlage autark betrieben werden kann. Über 2.000 neu gepflanzte Baumsetzlinge werden in wenigen Jahren einen Campus im Wald entstehen lassen. Für Kéré ist der Ort mehr als nur eine bauliche Infrastruktur mit architektonischem Wert. „Schönes, durchdachtes Design ist etwas, was Menschen inspirieren kann. Vor allem junge Menschen brauchen mehr als nur ein Dach über dem Kopf, wenn sie sich neues Wissen aneignen sollen. Wenn Lernen in Räumen stattfindet, die zum Träumen anregen, können Dinge entstehen, die niemand so hätte planen können. Außerdem geht es darum, ein angenehmes Raumklima und eine Wohlfühlatmosphäre des Lernens zu schaffen. Kaum etwas erleichtert den Unterricht so sehr wie gute Architektur.“

Kérés Architektur fasziniert durch die Klarheit der Formensprache und die Stärke des verwendeten Materials. Auch bei seinem Entwurf für den Bildungscluster in Koudougou hat der aus Burkina Faso stammende und in Deutschland ausgebildete Francis Kéré auf sein umfangreiches Wissen über traditionelle Baustoffe und Montagemethoden zurückgegriffen. Was seine architektonische Handschrift auszeichnet: Kéré respektiert lokale Bautechniken, setzt sie in materialgerechter Form ein. Unter dem Titel „Radikale Einfachheit“ hat sein Münchener Professorenkollege Andres Lepik vor einigen Jahren eine wegweisende Ausstellung mit Arbeiten von Kéré kuratiert. Immer wieder verwendet der vielfach prämierte Afrikaner ungebrannte Lehmziegel, grob gebrochenen Naturstein, die typischen etwa zehn Zentimeter dicken Eukalyptusstämme für die unteren Seiten der Dächer über schattenspendenden Innenhöfen oder – wie im Fall des BIT – als eine Art Sonnenschutz. Die mit der Zeit ausbleichenden vertikal angeordneten Stangen erfüllen hier auch eine weitere Aufgabe: Sie geben den ringförmig angeordneten rechteckigen Klassenräumen eine amorphe Außenform, noch mehr: Sie fügen die Einzelbauten zu einer Gemeinschaft von Häusern zusammen, wie man es bei den Gehöften des Umlands von Koudougou beobachten kann. Darin spiegelt sich eines der Hauptthemen von Kérés Entwürfen wider: das Spiel zwischen Innen und Außen. Mit dem ringförmigen Bau des Lycée Schorge hat er die Landschaft mit ins Gebäude hineingezogen. Die transluzenten Wände verstärken dieses Wechselspiel zwischen Zusammenhalt und Offenheit.

 

Für den Gebäudekomplex der Universität, der derzeit noch weiterwächst, hat Kéré statt ungebrannter Ziegelsteine gefärbten Sichtbeton gewählt. Die wiederverwendbaren Schalungen aus Stahl sorgen für die erforderliche Präzision bei den standardisierten Modulen für 40, 100 und 200 Studierende. Die Oberflächen zeigen, mit welch hoher Qualität die Bauingenieure ihre Arbeit verrichten. Man muss wissen, dass die Region eine lange Tradition an Lehmbauten und daher einen gewissen Oberflächenkult bei glatten Fassaden entwickelt hat. Doch die Präzision der Metallformen und die gleichmäßige Durchfärbung des Betons zeugen von umfangreichen Kenntnissen. Insofern hat Francis Kéré in seiner Heimat mit dem Bestreben nach Betonbauarbeiten auch einen Know-how-Transfer geleistet. Inwiefern die lokalen Bauarbeiter das Wissen um die Geheimnisse des Sichtbetons weitertragen, wird sich in den kommenden Jahren bei Neubauten in der Region zeigen. Aus der Fassade des Burkina Institute of Technology spricht zumindest eine klare architektonische Haltung: eine Ästhetik des Einfachen, aber auch eine Ästhetik des Unfertigen. Angemessen für den Ort ist es allemal.

 

Jenseits von Theorie und Terrorismus

Die Rückkehr zum Einfachen, mit Liebe zum Detail in seiner ursprünglich gedachten Form, kann große Kraft in sich bergen. In Kérés Architektur zeigt sich aber auch ein Element der afrikanischen Architektur, die Ron Eglash vor einigen Jahren beschrieben hat: „African Fractals“. Der US-amerikanische Ethnomathematiker leitet aus seinen wissenschaftlichen Beobachtungen gar eine mögliche Theorie der Architektur ab. Kern seiner These sind Algorithmen von Mustern und Ornamenten afrikanischer Kulturen, die auf der Wiederholung von Fraktalen aufbauen. Die geografischen Muster zeichnen sich durch ihre immer kleiner werdenden Maßstäbe aus, wie es Eglash etwa in einer Siedlung in Sambia nachgewiesen hat und als typisch für das subsaharische Afrika definiert. „In Europa und Amerika sehen wir oft Städte, die in einem Rastermuster mit geraden Straßen und rechtwinkligen Ecken angelegt sind. Im Gegensatz dazu neigen traditionelle afrikanische Siedlungen dazu, fraktale Strukturen zu verwenden: Kreise von Kreisen kreisförmiger Behausungen, rechteckige Mauern, die immer kleinere Rechtecke umschließen, und Straßen, in denen sich breite Alleen zu winzigen Fußwegen mit auffälligen geometrischen Wiederholungen verzweigen. Diese einheimischen Fraktale sind nicht auf die Architektur beschränkt. Ihre rekursiven Muster finden sich in vielen unterschiedlichen afrikanischen Designs und Wissenssystemen wieder.“ Eglash bezieht sich wiederum auf den französischen Mathematiker Benoît Mandelbrot, der Mitte der 1970er Jahre den Begriff „Fraktal“ geprägt und dessen geometrische Muster in der Natur nachgewiesen hat.

 

Die Theorie der Fraktale wird Kéré kaum im Sinn gehabt haben, als er seine ersten Skizzen auf Papier zeichnete. Vielmehr spiegeln seine Arbeitsweise und Entwürfe die Intuition wider, einen einfühlsamen Beitrag zur Architektur Westafrikas zu leisten. Nicht aufgeregt und nach Effekt haschend, eher ruhig und fast bescheiden. Als Kéré unlängst gefragt wurde, welche theoretische Position er in seiner Architektur vertrete, war seine Antwort präzise und offen zugleich: „Was meinen wir, wenn wir von einer Theorie der afrikanischen Architektur sprechen? Kann diese Theorie die Probleme der Millionen von Nachbarschaften erfassen, die es in Afrika gibt und bald geben wird? Ich glaube, dass es keine singuläre Theorie gibt, die in der Lage ist, die Wahrheit über den afrikanischen Kontinent oder seine Architektur zu sagen. Ich hoffe, dass wir in einem theoretischen Verständnis der Architektur in Afrika die Spezifität, das Detail, die Geduld und die Menschen mit einbeziehen können.“

 

Bleibt es also eine europäische Sichtweise, aus der Postrationalisierung der gebauten Umwelt eine Theorie der Architektur abzuleiten? Sind es nicht die alltäglichen Probleme, die im Mittelpunkt der Debatte stehen sollten? Burkina Faso hat sich in den vergangenen zehn Jahren zu einem Schauplatz des international agierenden Terrorismus gewandelt. Der Norden der ehemaligen französischen Kolonie La Haute-Volta wird wie der Norden Malis und Teile von Niger und Nigeria immer wieder von grenzüberschreitend agierenden kriminellen Banden, Terrormilizen und Schmugglern überfallen. Westliche Ausländer werden seit einiger Zeit von ihren Botschaften vor Ort immer wieder vor Überlandfahrten gewarnt. Hinzu kommen die Folgen des Klimawandels, die in der gesamten Sahelzone zu Binnenmigration führen. Allein in Burkina Faso zählt das UNHCR über eine Million Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Vor allem der jungen Bevölkerung eine Zukunftsperspektive zu bieten – auch dafür steht das Burkina Institute of Technology: ein Bildungsprogramm zur Förderung der regionalen Strukturen. Allerdings muss den Absolventen eine Berufsperspektive geboten werden, da ansonsten das Risiko der Abwanderung nach Ouagadougou hoch bleibt.


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