Avril Joffe - 25. September 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kultur- & Kreativwirtschaft in Afrika

Goldgräberstimmung


Kultur- und Kreativwirtschaft als Antriebskraft für eine nachhaltige Entwicklung Afrikas

Die Kultur- und Kreativwirtschaft (KuK-Wirtschaft) in Afri­ka erfreut sich zurzeit großer Aufmerksamkeit seitens der Medien. Man spricht voller Begeisterung vom „neuen Gold“, vom „neuen Geld“, von einer „unerschlossenen Branche“ oder vom „schlafenden Riesen“, der das Ende von Armut und Arbeitslosigkeit auf dem afrikanischen Kontinent einläutet. In Meldungen, wie den 2008 und 2010 veröffentlichten UNCTAD-Berichten, zur Kreativwirtschaft nehmen die Vereinten Nationen Bezug auf das Entwicklungspotenzial Afrikas, betonen jedoch gleichzeitig, dass der Anteil von Afrika an der globalen Kreativwirtschaft weniger als ein Prozent des 624 Milliarden Dollar schweren weltweiten Handels mit Kreativgütern ausmacht. Auf dem afrikanischen Kontinent fördern internationale Einrichtungen wie der British Council und das Goethe-Institut im Bereich Kultur tätige Unternehmer.

 

Es fällt auf, dass sich diese Aufmerksamkeit in erster Linie auf die potenzielle Monetarisierung und das Schaffen von Märkten für die Kultur- und Kreativwirtschaft bezieht. In dem von der UNESCO 2013 veröffentlichten Bericht zur Kreativwirtschaft stehen dagegen viele innovative einheimische Praktiken im Vordergrund. Daneben liefert der Bericht überzeugende Argumente für die Notwendigkeit, das kulturelle Leben vor Ort zu unterstützen, um allgemeine Entwicklungschancen zu verbessern, und zwar unabhängig davon, ob sich diese Aktivitäten kommerziell nutzen lassen oder nicht. Was jedoch steckt hinter all dem Hype, und wie sollen wir uns die Kultur- und Kreativwirtschaft in Afrika vorstellen? Zunächst einmal besteht ein starkes Bedürfnis danach, ein spezifisch afrikanisches Narrativ zu entwickeln, welches die Sprache, das Kulturerbe, indigenes Wissen und Kunst sowie den Kultur- und Kreativsektor umfasst und diese Bereiche ganzheitlich als Teil der Kulturwirtschaft betrachtet. Es geht hier nicht um Wortklauberei: Es wird versucht, die Rolle der Kultur mitten im Zentrum unserer Volkswirtschaften neu zu definieren und sie als Teil der afrikanischen Kulturökologie wahrzunehmen und nicht als Aneinanderreihung einzelner Kultur- und Kreativbereiche wie Design, Musik, Mode, Film, literarische und darstellende Künste bzw. Video- und Computerspiele oder Verlagswesen. Andererseits gibt es mittlerweile sogar in Afrika selbst eindeutige Anzeichen dafür, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft die Fantasie der Afrikanischen Union (AU) beflügelt. Dies kommt in der „African Charter for Cultural Renaissance“ von 2006, dem „AU Plan of Action for Cultural Industries“ von 2008 und der vor Kurzem veröffentlichten AU-Agenda 2063 zum Ausdruck. In Letzterer wird betont, dass man sich nicht ausschließlich auf wirtschaftliche Aspekte konzentrieren sollte, und dass eine stark ausgeprägte kulturelle Identität sowie gemeinsame Traditionen, Werte und Moralvorstellungen die Voraussetzung für ein prosperierendes Afrika mit integriertem Wachstum und nachhaltiger Entwicklung sind.

 

Während die meisten afrikanischen Regierungen eine eigene Kulturpolitik betreiben, haben die wenigsten politische Maßnahmen oder Strategien für die Kulturwirtschaft entwickelt. In einigen Ländern wie Burkina Faso, Kenia, Nigeria und Südafrika wurde die Kulturpolitik neu definiert, sodass die Kultur- und Kreativwirtschaft entweder miteinbezogen oder branchengerechte Strategien entwickelt wurden. Nigeria z. B. erkennt den Beitrag der einheimischen Film- (2,3%) und Musikindustrie (9%) zum Bruttoinlandsprodukt des Landes an.

 

Bemerkenswert ist, dass mehr als zwei Drittel der afrikanischen Regierungen 2005 die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen ratifiziert haben. In vielen afrikanischen Ländern ist die Kultur und Kreativwirtschaft mittlerweile Teil des nationalen Entwicklungsplans geworden.

 

Derzeit leben ca. 1,3 Milliarden Menschen in Afrika. Man geht davon aus, dass diese Zahl bis 2100 auf 4,2 Milliarden ansteigen wird. Die Länder südlich der Sahara haben viele Gemeinsamkeiten wie z. B. die rasante Urbanisierung – oft ohne entsprechende Industrialisierung. Laut Prognosen wird bis 2050 mehr als die Hälfte der Afrikaner in Städten leben. Dabei zeichnet sich unser Kontinent durch extreme Armut, hohe Arbeitslosigkeit und eine sehr junge Bevölkerung aus, denn 60 Prozent der afrikanischen Bevölkerung sind noch nicht einmal 30 Jahre alt. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist überdurchschnittlich stark in den afrikanischen Städten – mit besserem Zugriff auf Finanzierungsdienste, Logistik und Infrastruktur – vertreten, obwohl es auf dem ganzen Kontinent auch einige bemerkenswerte Beispiele ländlicher Entwicklungsinitiativen im kulturellen Bereich gibt, wie z. B. Festivals. Trotz der hohen Kosten für die Datenübertragung hat sich die Anzahl der Menschen in den Ländern südlich der Sahara, die über mobiles Internet verfügen, seit Beginn dieser Dekade vervierfacht. Afrika ist mittlerweile sogar der zweitgrößte Mobilfunkmarkt der Welt, und Kenias mobiler Zahlungsdienst M-PESA ist gegenwärtig der erfolgreichste auf Mobilfunk basierende Überweisungsdienst in den Entwicklungsländern. Dennoch gibt es nur sehr wenige Länder in Afrika, die über eine komplette Wertschöpfungskette in der Kultur- und Kreativwirtschaft verfügen – angefangen bei Entwicklung, Produktion und Vertrieb über die Ausstellung von Werken bis hin zum Konsum und der Mitwirkung der Verbraucher. In den meisten Ländern gibt es nicht genügend relevante Ausbildungsmöglichkeiten und gute Vertriebsnetze; es fehlt nicht nur eine kulturelle Infrastruktur, sondern auch Produktionstechnologien sowie Ausstellungsräume für alle Kunstformen. Auf eine Million Einwohner kommt in Afrika beispielsweise nur ein Kino. Möglichkeiten zur Finanzierung lokaler Projekte, zur Förderung künstlerischer Forschung und Entwicklung und zur besseren Vermittlung technischer Fertigkeiten sind noch immer sehr begrenzt. Leider widmen sich nur sehr wenige Kulturschaffende dem Thema der Umweltzerstörung wie Elektroschrott bzw. CO2-Emissionen.

Das Hauptproblem für Afrikas Wertschöpfungskette der Kultur- und Kreativwirtschaft besteht darin, dass diese kaum mit anderen Wirtschaftssektoren verknüpft ist, dass geeignete Ausbildungsmöglichkeiten sowie die entsprechenden Betreuer fehlen und dass es keine Cluster- bzw. adäquate Netzwerkstrukturen gibt. Dazu kommt, dass viele Länder nicht über die Daten und Statistiken verfügen, mit deren Hilfe sie sich über die Bedeutung ihrer Kultur- und Kreativwirtschaft informieren sowie ihr Verständnis der Branche verbessern könnten. Außerdem sind kulturelle Aktivitäten überdurchschnittlich oft informeller Art, d. h., sie werden weder reguliert, noch besteuert, und sind schwer messbar.

 

Einige wenige Länder wie Burkina Faso, Nigeria und Südafrika haben Sektor-Analysen durchgeführt. In Südafrika hat das Cultural Observatory (SACO) 2015 ermittelt, dass mehr als eine Million bzw. 6,72 Prozent aller südafrikanischen Arbeitsplätze in der „Kulturwirtschaft“ im weiteren Sinne angesiedelt sind.

 

Obwohl in vielen dieser Studien eine Stärkung der kulturellen Wertschöpfungskette gefordert wird, geht es in Afrika weniger um die Notwendigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, sondern um die Schaffung eines Umfelds, das die Menschen in die Lage versetzt, Einkommensquellen zu erschließen, öffentlich-private Partnerschaften zu gründen, regionale und globale Lieferketten aufzubauen, ihren Lebensunterhalt besser zu bestreiten sowie vermehrt am kulturellen Leben in den Gemeinden, Dörfern, Klein- und Großstädten teilzunehmen und sich entsprechend zu engagieren. Die Konzentration auf diesen Schwerpunkt wird eine Situation hervorbringen, in der Künstler, Kulturschaffende sowie alle Bürger aktiv werden und sich kritisch mit ihrem eigenen Leben sowie mit dem Leben in ihrem Land auseinandersetzen.

 

In jedem Abschnitt der Wertschöpfungskette der Kultur- und Kreativwirtschaft gibt es trotz Hindernissen faszinierende neue Entwicklungen, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Kommentatoren sind übereinstimmend der Meinung, dass Afrika Talente und Kreativität in Hülle und Fülle besitzt, und dass der Kontinent über einen enormen Fundus an Kulturgütern, Traditionen und kulturellem Reichtum verfügt. In einigen Ländern gibt es mittlerweile nationale Kulturstiftungen, die kulturelle Ausdrucksformen fördern. Nach Ratifizierung der UNESCO-Konvention akzeptieren viele afrikanische Länder inzwischen, dass zur Förderung von Kreativität das Recht auf freie Meinungsäußerung gehört, und dass es daher in der Öffentlichkeit Möglichkeiten geben muss, sich in offenen, lebhaften Debatten auszutauschen. Innovative Methoden, mit denen Fördermittel für Produktionen beschafft werden, werden erprobt und zunehmend genutzt. Dazu gehört unter anderem der Heva Fonds in Kenia, Afrikas erste Initiative, die sich ganz speziell der Finanzierung und Unterstützung von Unternehmen sowie der Vermittlung von Wissen im Kreativsektor widmet.

 

Das schwächste Glied in der Wertschöpfungskette der Kultur- und Kreativwirtschaft ist seit jeher der Vertrieb. Dies führt dazu, dass die Kreativität Afrikas in den Ländern der nördlichen Hemisphäre oft gar nicht richtig wahrgenommen wird. In dem Maße, in dem jedoch afrikanische Fernsehsender vor Ort anfangen, in globalen Kategorien zu denken, wie RTI an der Elfenbeinküste, und Netflix beginnt, afrikanische Filme zu kaufen und Investitionen im Filmsektor zu tätigen, wird auch die Weitergabe kultureller Inhalte leichter. Die fehlenden Ausstellungsräume stehen in starkem Kontrast zum Erfolg digitaler Plattformen. Unternehmen wie iROKOtv, der Online-Anbieter von nigerianischen Filmen, oder der Buni+-Streamingdienst in Kenia wissen, dass junge Menschen in Afrika geradezu nach Inhalten lechzen. Obwohl dieser Hunger teilweise mithilfe von Smartphones und Tablets gestillt wird, ist es weiterhin das Radio, das sowohl für die Land- als auch für die Stadtbevölkerung das wichtigste Mittel darstellt, um sich über einheimische Sprachen Zugang zur afrikanischen Kultur zu verschaffen. Mittlerweile gibt es einige erfolgversprechende Entwicklungen wie z. B. die Gründung afrikanischer Produktionsunternehmen, die Filme und lokale Serien produzieren. Die Elfenbeinküste und der Senegal folgen hier dem Beispiel Südafrikas und Nigerias.

 

In jedem Land herrscht enormer Andrang bei Live-Konzerten, Film- und sonstigen Kunst- und Kulturfestivals, wie z. B. MASA in Abidjan, das Fak’ugesi Digital Innovation Festival in Südafrika, Fespaco in Ouagadougou und das EAC Jamafest in Uganda. Ein wichtiger Bereich, in dem Regierungen Engagement zeigen sollten und in dem mehr Aktivität erforderlich ist, ist die Förderung von Veranstaltungen wie Preisverleihungen, Messen, Festivals und Wettbewerben zur Stärkung der Nachfrage nach afrikanischen Inhalten und zur Profilierung der afrikanischen Kulturökologie.

Zwischen wichtigen bereichsübergreifenden Leistungen und der Kulturwirtschaft klafft häufig eine große Lücke: Die Allgemeinbildung und Kunsterziehung sind ebenso unzureichend wie die Urheberrechtssituation; die Stromversorgung ist suboptimal, die Kosten der Datenübertragung sind hoch, und die Möglichkeiten für öffentlich-private Partnerschaften sind begrenzt. Auf politischer Ebene gibt es hinsichtlich der kulturellen Wertschöpfungskette zu wenig Zusammenarbeit zwischen einzelnen Ministerien, die Entwicklungsprozesse anstoßen und vorantreiben könnte: Dies beeinträchtigt ganz wesentlich die Fähigkeit afrikanischer Regierungen, den wahren Wert ihrer Kulturökologie zu erkennen und sich zunutze zu machen.

 

Eine Reihe lokaler Initiativen verdient besondere Unterstützung und Nachahmung:

  • Stadtverwaltungen sollten dem Beispiel von Kapstadt, Accra, Nairobi und Dakar folgen und eine aktive Rolle bei der Entwicklung von Kulturpolitik spielen. Angesichts der Tatsache, dass afrikanische Städte bereits jetzt mehr als die Hälfte des gesamten Bruttoinlandsprodukts auf dem afrikanischen Kontinent erbringen, können die Kulturpolitik sowie Strategien der Kultur- und Kreativwirtschaft nicht länger ausschließlich die Aufgabe nationaler Regierungen sein.
  • Im städtischen Bereich sollte mehr Bürgern und Einwohnern eine Mitwirkung ermöglicht werden, und die Gründung von Partnerschaften zwischen Kulturzentren und Stadtverwaltungen, wie z. B. das GoDown-Kunstzentrum in Nairobi, sollte unterstützt werden.
  • In vielen der wichtigen Zentren Afri­kas sollte die Entstehung von Talent-Clustern gefördert werden, die Technologen sowie Unternehmer im Kunst-, Kreativ- und Sozialbereich anziehen.
  • Das für die Kulturwirtschaft benötigte und entsprechend ausgebildete Humankapital sollte mithilfe von Partnerschaften zwischen dem Dienstleistungs- und Kultursektor Unterstützung erfahren.

 

Auf der Afrika-Tagung des Weltwirtschaftsforums, die im September 2019 in Südafrika stattfand, wurde auf die Bedeutung einer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtung auf unserem Kontinent hingewiesen. Dies ist wichtig für das Wachstum und die Stärkung der Kulturwirtschaft in Afrika, insbesondere wenn dies die Mobilität der Menschen erleichtert. Es ist an der Zeit, die Wertschöpfungsketten der Kultur- und Kreativwirtschaft neu zu definieren, und zwar nicht spezifisch für jedes Land, sondern im Sinne regionaler Wertschöpfungsketten, die sich der Stärken unterschiedlicher afrikanischer Länder bedienen. Es geht hier nicht so sehr darum, dass das „unerschlossene Potenzial“ der Kulturwirtschaft eine neue Entwicklungsrichtung vorgibt oder den wirtschaftlichen Reichtum Afrikas sichert, sondern darum anzuerkennen, dass die Kulturwirtschaft in Afrika mit staatlicher Unterstützung, durch Mitwirkung der Zivilgesellschaft und auf Grundlage eines tiefgreifenden Verständnisses für einheimische kulturelle Ausdrucksformen als ein strategischer Wegbereiter und als eine wesentliche Antriebskraft für eine nachhaltige Entwicklung auf dem Kontinent fungieren kann. Die Regierungen in den afrikanischen Ländern dürfen sich daher nicht nur auf die logistische, finanzielle, regulatorische und institutionelle Unterstützung der Kulturwirtschaft im eigenen Land konzentrieren, sondern müssen bereit sein, bereits bestehende Arbeitsbeziehungen zwischen afrikanischen Ländern mit dem Ziel einer grenzüberschreitenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Integration weiter auszubauen, um die regionalen Wertschöpfungs-Netzwerke innerhalb der Kulturwirtschaft zu stärken.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2019.

 


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