Philipp Meuser - 30. Juni 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kultur- & Kreativwirtschaft in Afrika

Auf der Suche nach der afrikanischen Stadt


Haustypologien zwischen Lowtech und Hightech

Eine Phase, in der eine globale Pandemie die Regeln des Zusammenlebens hinterfragt, erschwert eine verlässliche Aussage zur Zukunft der afrikanischen Stadt. Der französische Architekt Aldric Beckmann, der 2017 mit einem Team den Wettbewerb zum Bau einer neuen Stadt bei Ouagadougou in Burkina Faso gewann, sah schon seinerzeit die Ungewissheit. „Wir müssen zugeben, dass die Planung ein großer Sprung ins Unbekannte ist. Wir riskieren, 15 Jahre lang auf Sicht zu navigieren, weil die afrikanische Stadt noch nicht erfunden wurde oder sich selbst noch nicht erfunden hat.“  Ob dieser Stadttypus mit dem südöstlich der Hauptstadt geplanten Ort Yennenga, in dem zukünftig auf 678 Hektar Fläche 80.000 Einwohner leben sollen, gefunden sein wird, ist zweifelhaft. Denn obwohl Ouagadougou zu den schnell wachsenden Städten Afrikas gehört, wird sich eine neu zu errichtende Stadt kaum mit Zuzüglern aus agrarwirtschaftlich geprägten Regionen füllen, um binnen wenigen Jahren eine urbane Stadtkultur aufbauen zu können. Oder entspricht dies einer typisch europäischen Sichtweise?

 

Vielleicht geht es weniger um die Frage nach einer Typologie der afrikanischen Stadt und vielmehr darum, mit welchen Gebäudetypologien diese Stadt gebaut wird. Vor diesem Hintergrund gilt es die positiven Beispiele der subsaharischen Stadtentwicklung zu identifizieren. Diese sind geprägt von einer Kombination aus traditionellen Bauweisen mit lokalen Materialien und einem reduzierten Einsatz von Hightech-Produkten. Auf dem gesamten Kontinent finden sich Beispiele, bei denen Architekten traditionellen oder unkonventionellen Konstruktionsmethoden gefolgt sind, um eine vorbildliche Alltagsarchitektur zu errichten. Dazu zählen die kostengünstigen Sandsackhäuser in Kapstadt in Südafrika von Luyanda Mpahlwa oder die in traditioneller Lehmbauweise errichteten Mittelklasse-Wohnbauten in Niamey in Niger von Mariam Kamara. Der Neubau für das Goethe-Institut in Dakar im Senegal, das in der vorherigen Ausgabe 6/21 von Politik & Kultur vorgestellt wurde, gehört ebenfalls in diese Reihe.

 

Aber auch nichtafrikanische Architekten haben Akzente gesetzt, etwa die Italiener Riccardo Vannucci und Giovanna Vicentini mit Lowtech-Sanitärstationen in Burkina Faso oder die Deutsche Anna Heringer mit einem Kindergartenbau in Form einer strohbedeckten Rundhütte in Simbabwe.

 

Alle diese Projekte verbindet der Ansatz, das vorhandene Know-how der lokalen Bevölkerung zu nutzen und mit einfachsten Methoden zu bauen. Sie erfordern zudem kein großstädtisches Umfeld und können auch in ländlichen Regionen realisiert werden – so auch Hightech-Beispiele wie der Solar-Kiosk von GRAFT oder die Drohnen-Verteilungszentren von Norman Foster. Beide Typenprojekte basieren auf der Idee, die in vielen Regionen nicht vorhandene Infrastruktur durch autarke Hochtechnologie zu ersetzen. Der Solarkiosk besteht aus addierbaren Modulen, die dank Fotovoltaiktechnik ortsunabhängig aufgestellt werden. Genutzt werden können die Einheiten als Krankenstation, Büro oder als Community Center mit permanenter Strom- und Internetversorgung. Den Drohnen-Flughäfen von Foster liegt die Idee zugrunde, entlegene Regionen ganzjährig mit wichtigen Medikamenten oder mit Post zu versorgen. Damit könnte der eingeschränkten Mobilität etwa während der Regenzeit mit den dann oft nicht befahrbaren Straßen begegnet werden.

 

Eine Kultur schafft die beste Architektur nur mit Materialien und Techniken, die sie kennt. In einem Markt wie Afrika, wo die Kosten die Bauzeit und architektonische Qualität dominieren, ist die Rückbesinnung auf vorhandene Materialien umso wichtiger. Denn vor allem chinesische Billigprodukte überschwemmen den lokalen Baumarkt, unterstützen aber nicht eine Evolution der afrikanischen Architektur, sondern ersetzen sie durch eine fremde Ästhetik. Soll die Urbanisierung Afrikas auch zur kulturellen Identität beitragen, kann diese nur von den Bewohnern selbst verantwortet werden. Aus Europa und China dürfen allenfalls Methoden des Projektmanagements importiert werden. Im Westen bewährte Planungsmethoden sind aber längst noch kein Garant, dass Projekte in Afrika erfolgreich umgesetzt werden können. Das mag sich erst ändern, wenn die Ausbildung von Stadtplanern und Architekten nicht mehr nur an wenigen afrikanischen Universitäten erfolgt.

Das unvermeidliche Anwachsen informeller Siedlungen braucht dennoch schon jetzt eine strategische Planung. Das kollektive Wissen der Bevölkerung um Bau und Bewirtschaftung von Häusern ließe sich gut darin einbinden – zum Vorteil aller. Der Chilene Alejandro Aravena hat 2016 als Generalkommissar der Architektur-Biennale in Venedig eine vorbildliche Strategie vorgestellt: Der Staat schafft Infrastruktur, allem voran Straßen und Kanalisation, und überlässt den vom Lande Zugezogenen einen seriell gefertigten Rohbau auf kleinem Grundstück, der individuell ausgebaut und erweitert werden kann. Dies wäre nicht nur eine kostengünstige Variante, die den überwältigenden Dimensionen des Urbanisierungsprozesses gerecht wird, sondern würde auch gewachsene Strukturen berücksichtigen und auf die Eigeninitiative der Menschen setzen. Pritzker-Preisträger Aravena gilt mit seiner Bauweise halbfertiger Wohneinheiten inzwischen nicht mehr nur in seiner Heimat Chile als Pionier des kostengünstigen Bauens. 2019 reiste er erstmals in den Sudan, wo drei Viertel der Bevölkerung täglich mit umgerechnet unter fünf Euro auskommen müssen. In einem Kulturkreis, in dem die Menschen nicht verlernt haben, ihr eigenes Haus zu bauen, könnte seine Methode noch erfolgreicher sein als in Südamerika. Und für ganz Afrika könnte sie einen Beitrag leisten zu einer Urbanisierung, die für die Masse der Bevölkerung finanzierbar ist.

 

Damit der Hausbau für die 400 Millionen neuen Stadtbewohner Afrikas bis 2050 aber nicht noch mehr zum Klimawandel beiträgt, sind die Kenntnisse traditioneller Baumethoden umso wichtiger. Würde der Bedarf an zukünftigem Wohnraum in Afrika mit Bauten aus Zement gedeckt werden, entspräche dies wohl 80 Prozent des weltweit zulässigen Kohlendioxidausstoßes. Auf den Baustellen zwischen Kairo und Kapstadt wird bereits heute so viel Beton verbaut wie in Europa. Um den Zementanteil im Beton zu reduzieren, müssen Ersatzstoffe gefunden werden. An der Universität Lagos etwa experimentiert der nigerianische Bauingenieur Kolawole Adisa Olonade mit Maniokschalen. Die bei der Verbrennung der Schalen entstehende Asche enthält einen hohen Anteil an reaktivem Siliziumdioxid, das als nachhaltiger Zementersatz verwendet werden und so die Ökobilanz im Vergleich zu herkömmlichem Beton verbessern kann.

 

Ohnehin liegt in der Entwicklung regenerativer Baumaterialien ein Forschungsfeld mit Zukunft. Größter Gegner ist allerdings die weltweite Zement-Lobby, die in Afrika kaum mehr sieht als einen boomenden Baumarkt.

 

Die Zukunft der afrikanischen Architektur wird sich in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen entscheiden. Das Wissen der Menschen vor Ort, die nach Jahrhunderten des kollektiven Hausbaus nicht verlernt haben, ihre Bauten nach traditioneller Überlieferung zu errichten, lässt auf einen neuen baukünstlerischen Regionalismus hoffen. Im medialen Zirkus der globalisierten Individualstandards, in dem die Schärfe des Fotos über die Qualität der Architektur richtet, mag das eine wohltuende Beruhigung darstellen. Bei zukünftiger moderner Architektur im subsaharischen Afrika sollten wir uns auf eine Ästhetik des Unfertigen und auf wachsende Häuser einstellen – einfache Standards, die im Laufe des Lebens qualifiziert werden. Dies wird einhergehen müssen mit zeitgemäßen Antworten auf die Bodenfrage, die Spekulationen zumindest für einen bestimmten Zeitraum verhindern und selbstbestimmte Stadtentwicklung fördern. Eine vereinfachte Bewilligung von Mikrokrediten könnte einen solchen Städtebau unterstützen, flankiert von einer Stärkung der Berufsgenossenschaften im Planen und Bauen sowie einer nachhaltigen Ausbildungsförderung in den Bauberufen. Und wir müssen uns weiterhin über eine Theorie der afrikanischen Baukunst verständigen, nicht zuletzt weil die indigenen Bauformen, die in Afrika heute noch überall zu bewundern sind, die Wurzeln aller humanen Bautypen abbilden. Insofern wird jede Grundlagenforschung zu den Ursprüngen des menschlichen Bauens in ihrer akademischen Schlussfolgerung auch einen Bezug zu Afrika herstellen müssen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.


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