Mustafa Akyol - 29. Juni 2017 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kultur in der Türkei

Quadratur des Kreises


Lässt sich der Islam mit einer freiheitlichen Gesellschaft in Einklang bringen?

Es steht außer Zweifel, dass Weltregionen mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung heute auf freiheitsliebende Menschen eher düster wirken. Laut dem von Freedom House, einer überparteilichen Nichtregierungsorganisation, veröffentlichten „Freedom House Index“, einer Weltkarte der Freiheit, sind die meisten mehrheitlich muslimischen Länder schlicht „unfrei“. Während einige davon – unter anderem mein Land, die Türkei – als „teilweise frei“ gelten, gibt es nur ein Land mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung, dessen Bürger eventuell in den Genuss von „Freiheit“ kommen. Dieses Land ist Tunesien, das einzige Land, das auf die turbulenten Ereignisse des Arabischen Frühlings von 2011 mit dem Aufbau einer liberalen Demokratie reagierte.

 

Warum ist das so? Warum ist Freiheit bei Muslimen ein so seltenes Gut? Die Antwort auf diese Frage hat nur teilweise mit dem Islam zu tun. Eines der Länder mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung, das am stärksten unter Unterdrückung leidet, ist z. B. Usbekistan: Es schneidet im internationalen Vergleich genauso schlecht ab wie Nordkorea. Usbekistan ist jedoch eine säkulare Diktatur, die sich noch nicht von ihrem kommunistischen Erbe befreit hat. Bei vielen anderen muslimischen Staaten kommen zusätzliche Faktoren wie Nationalismus, Stammesdenken sowie schlicht und einfach Machtgier hinzu, die politische Rechte, Freiheitsrechte oder Religionsfreiheit bedrohen.

 

Das Problem mit der Scharia

Ein Teil des Problems hat jedoch mit dem Islam oder zumindest mit seinen derzeitigen Ausprägungen zu tun. In Ländern wie Saudi-Arabien, dem Iran, Sudan, Afghanistan oder Pakistan wird islamisches Recht oder die Scharia praktiziert, die harte Strafen für den „Abfall vom Glauben“ oder für „Gotteslästerung“ vorsieht. Dies bedeutet, dass Menschen, die vom Islam zu einem anderen Glauben wie dem Christentum übertreten, hingerichtet und dass Säkularisten, welche die Religion „verunglimpfen“, eingesperrt oder ausgepeitscht werden können.

 

Gleichzeitig werden Frauen unterdrückt, Homosexuelle verfolgt und Nicht-Muslime sowie „häretische“ Muslime wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Terroristengruppen wie IS oder Boko Haram setzen diese Maßnahmen sogar noch aggressiver um. Diese Fanatiker rauben den Menschen nicht nur die Freiheit, sondern zerstören ihr Leben.

 

Es gibt also in der Tat ein Problem mit der Scharia. Das bedeutet allerdings nicht, dass jeder Muslim in der Welt ein gefährlicher Agent wäre, der nur danach trachtet, bei uns „hintenherum“ die Scharia einzuführen, was viele im Westen zu glauben scheinen. Das Gegenteil ist der Fall. Laut Umfragen bevorzugen viele Muslime – laut Untersuchungen des Pew Research Centers schwankt der konkrete Anteil von Land zu Land stark – eine säkular-liberale Rechtsordnung. Dazu gehören nicht nur säkulare Muslime, für die Religion vorwiegend eine kulturelle Frage ist, sondern auch viele fromme Muslime, die ihren Glauben einfach so leben wollen, wie sie ihn verstehen und nicht wie er von der „Religionspolizei“ vorgeschrieben wird.

 

Dennoch stellt die Scharia, zumindest in ihrer traditionellen Form, eine große Herausforderung für die Freiheit dar und schürt die bitteren politischen Spannungen sowie die zuweilen gewalttätigen Konfrontationen zwischen Muslimen, die sie durchsetzen wollen – und die gemeinhin als „Islamisten“ bezeichnet werden – und den säkulären Kräften in der muslimischen Welt, die wiederum ihre Position zuweilen recht uneinsichtig vertreten.

 

Lieber Locke als Luther

Es geht im Kern darum, ob sich die Scharia ändern kann und ob sich mehrheitlich muslimische Gesellschaften zu freien Gesellschaften entwickeln können, in denen Religion eine Frage des Gewissens und keine Frage des Zwangs ist. Viele im Westen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, sind der Meinung, dass ein „muslimischer Martin Luther“ der Schlüssel zu einer solch leuchtenden Zukunft sein könnte und berufen sich hierbei auf die Reformationsbewegung in Europa. Dies ist jedoch kein sehr passender Vergleich.

 

Denn die muslimische Welt von heute untersteht nicht einer gemeinsamen zentralen Autorität wie sie die katholische Kirche im Europa vor der Reformation innehatte. Das Gegenteil ist der Fall. Die muslimische Welt von heute ist extrem gespalten und von Chaos geprägt. Es geht hier folglich nicht darum, ein religiöses Monopol aufzubrechen, sondern darum, verschiedene islamische Gruppen, von denen die meisten auf ihre eigene, oft gegensätzliche Weise autoritär sind, zu liberalisieren.

Ein besserer Vergleich – falls es denn einen gibt – ist daher nicht die Reformation, sondern die Aufklärung. Wir brauchen, wie von mir immer wieder betont, keine muslimischen Nachahmer von Martin Luther, sondern muslimische Versionen von John Locke, die ihre religiösen Traditionen innerhalb eines rationaleren, toleranteren und liberaleren Weltbildes neu interpretieren.

 

Stimmen der Hoffnung

Solche liberalen muslimischen Denker gibt es und gab es bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es sind Gelehrte, die den Islam sowie insbesondere die Scharia neu interpretieren. Einige unter ihnen betonen, dass die islamische Rechtsordnung in einem bestimmten historischen Kontext entstand, und dass ihr „Ziel“, definiert als Schutz von „Leben, Religion, Vernunft, Eigentum und Abstammung“, zwar universell sei, die daraus folgenden Regeln jedoch einer Interpretation bedürfen.

Der Tunesier Rachid al-Ghannouchi, der moderne Ideen mit dem Vorsitz der gemäßigten, muslimischen Ennahda-Partei verbindet, ist ein prominenter Vertreter dieser reformistischen Tradition, die sich auf wesentliche Werte wie Demokratie und Freiheit beruft. Vor Kurzem rief al-Ghannouchi seine Glaubensgenossen dazu auf, „dem politischen Islam“, der mit Feuereifer die Scharia einführen will, „den Rücken zu kehren“ und sich für eine „muslimische Demokratie“ einzusetzen, womit er eine Vorreiterrolle einnimmt, die Hoffnung für die Zukunft verspricht. Und er ist nur eine von vielen prominenten Stimmen, zu denen die des iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush, der muslimischen Feministin Amina Wadud bzw. die von Khaled Abou El Fadl, der sich für Gesetzesreformen einsetzt, gehören.

 

Wie zu erwarten, werden muslimische Reformer von orthodoxen Islamisten als Ketzer und Verräter verdammt, die sich dem Westen anbiedern. Gleichzeitig sind viele verunsicherte Muslime auf der Suche nach der richtigen Interpretation ihres Glaubens und der richtigen Lebensweise, die im Einklang mit ihrem Glauben stehen soll. Man könnte sagen, dass in der muslimischen Welt ein „Kampf der Ideen“ stattfindet. Angesichts dieser dramatischen Situation wäre es ein großer Fehler, darauf zu beharren, der Islam werde aufgrund seines angeblich unabänderlichen Wesens Freiheit niemals akzeptieren. Dies wurde in den vergangenen Jahrhunderten auch in Bezug auf den Katholizismus oder Judaismus behauptet. Es war kein Geringerer als Immanuel Kant, der behauptete, das Judentum könne sich aufgrund seines „legalistischen“ Wesens nie mit einer liberalen Gesellschaftsordnung in Einklang bringen lassen.

 

Die Rolle des Westens

Für den Westen handelt es sich hier in erster Linie um eine innermuslimische Angelegenheit, die von Außenstehenden nicht unmittelbar beeinflusst werden kann. Trotzdem kann der Westen eine Rolle spielen.

 

Man sollte es sich zum Ziel machen, militärische Konfrontationen mit Muslimen zu vermeiden und versuchen, zu friedlichen Lösungen für die gewaltsamen Konflikte in der muslimischen Welt beizutragen. Denn Kriege, insbesondere mit „Ungläubigen“, führen zu Unsicherheit in muslimischen Gesellschaften, die wiederum autoritäre und radikale statt liberale Strömungen begünstigt.

 

Der Westen sollte Muslimen zudem zeigen, dass man als gläubiger Muslim ohne Weiteres am Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft teilhaben kann. Dies wiederum bedeutet, dass ein rigider Säkularismus, der konservative Muslime dazu zwingt, einige ihrer religiösen Praktiken aufzugeben, falsch und wenig zielführend ist. Eine liberale Gesellschaft sollte Menschen die Freiheit gewähren, sich für oder gegen Freiheit zu entscheiden und nicht nur, sich von der Religion zu befreien. Denn eine solche Gesellschaft würde gläubigen Menschen nicht zusagen.

 

Letztendlich sollte der Westen nicht vergessen, dass seine eigene Geschichte von religiöser Tyrannei geprägt war. Es ist nur ein paar hundert Jahre her, als selbst in Europa die Vorstellung, Ketzer nicht auf dem Schafott zu verbrennen oder Gotteslästerern nicht den Kopf abzuschneiden, recht neu war. Wenn es aber Europa gelungen ist, diese dunklen Zeiten hinter sich zu lassen, warum sollten es dann nicht auch andere schaffen?


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