Nurcan Baysal - 29. Juni 2017 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kultur in der Türkei

Mut und Widerstand


Kurdische Provinzen: Kann man die Kultur und Solidarität eines  Volkes unterbinden?

Die Nacht des 15. Juli 2016 war wie ein schlechter Traum. Aber was wir nach dem 15. Juli durchlebt haben, war weit mehr als ein schlechter Traum, es ähnelt einem Albtraum.

 

Mit den KHKs (Dekrete im Gesetzesrang), die nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes (OHAL) verabschiedet wurden, sind Hunderttausende entlassen oder in Gewahrsam genommen worden. Tausende Nichtregierungsorganisationen und hunderte Medienunternehmen wurden geschlossen, Journalisten und Abgeordnete wurden ins Gefängnis geworfen und das Parlament seiner Funktion beraubt. Der Druck richtet sich gegen alle Oppositionellen: Filmemacher, Anwälte, Ärzte, Akademiker, Schriftsteller. Die kurdischen Provinzen, in denen schon seit etwa anderthalb Jahren Ausgangssperren und Abriegelungen gelten, haben diesen Albtraum noch brutaler erlebt.

 

Putsch durch die Treuhänder gegen die Kultur und Zivilgesellschaft in kurdischen Provinzen

Nach der Ausrufung des OHAL hat die Regierung in den kurdischen Provinzen Bürgermeister unter dem Verweis „einer Terrororganisation zu helfen oder Unterschlupf zu gewähren“ verhaftet und an ihre Stellen Gouverneure, Vizegouverneure oder Landräte als Treuhänder eingesetzt. Treuhänder wurden in 79 von 102 kurdischen Stadtverwaltungen in den von den Parteien HDP oder DBP regierten Städten eingesetzt. 84 Bürgermeister befinden sich derzeit in Haft. Diese Zahlen erhöhen sich täglich.

 

Eine der ersten Taten dieser Treuhänder war es, städtische Frauen- und
Kulturzentren zu schließen. Der Treuhänder der Großstadtverwaltung Di­yarbakır hat zuerst das Direktorium für Frauenpolitik geschlossen und anschließend die Frauenzentren. In den kurdischen Städten Silvan, Mardin, Derik, Cizre, Batman und Van hat sich das Gleiche abgespielt. Diese Frauenzentren boten Frauen, die unter Gewalt gelitten haben, rechtliche und psychologische Hilfe an, sie organisierten Weiterbildungsprogramme, bemühten sich um die Markteinführung von Produkten, die von Frauen hergestellt wurden und arbeiteten über Frauenrechte. Es ist deutlich, dass die Treuhänder gegen den Ansatz der Geschlechtergleichheit der kurdischen Verwaltungen sind. Diese feindliche Einstellung ging aber noch weiter. Alle Busfahrerinnen wurden entlassen und es hieß, Frauen könnten keine Fahrer sein. Sogar die Notruftelefonnummern und Frauenhäuser in der Region wurden geschlossen.

 

Ein anderer Bereich, dem sich die Treuhänder widmeten, war Kunst und Kultur. Angeführt von der Großstadtverwaltung Diyarbakır haben die kurdischen Stadtverwaltungen in den vergangenen 15 Jahren ernsthafte Investitionen im Kunst- und Kulturbereich getätigt. Theater, die kurdische Stücke aufführen, Konservatorien und Kunstzentren wurden gegründet. Der Treuhänder hat als eine der ersten Amtshandlungen das Stadttheater Diyarbakır, das jährlich etwa 35.000 Zuschauer erreicht, geschlossen. Danach wurde auch das 2010 unter großen Anstrengungen gegründete Aram Tigran Konservatorium geschlossen, das in fünf Kunstdisziplinen ausbildete.

 

Darüber hinaus wurde auch das Kunst- und Kulturzentrum Cegerxwin in Kayapınar, das über Diyarbakır hinaus Kunst in der gesamten Region gefördert hat und jährlich 100 Absolventen hatte, seitens des Treuhänders geschlossen. Batman, Mardin, Şırnak, Hakkari, Yüksekova, Kızıltepe, Dargeçit, Nusaybin, Silvan, Cizre, Silopi… Kunst- und Kulturfestivals, die jedes Jahr in diesen kurdischen Städten veranstaltet wurden, wurden abgesagt.

 

Der Krieg, den der Staat gegen die kurdische Sprache und Kultur begonnen hat, traf auch den von der Großstadtverwaltung Diyarbakır gegründeten Kindergarten Zarokistan. Der moderne Kindergarten unterrichtete 3- bis 5-Jährige in Kurdisch und stieß von Anfang an auf großes Interesse, 195 Kinder waren eingeschrieben. Die Kinder wurden nicht nur in Kurmancî unterrichtet, sondern auch in Zazaki und Englisch und sind auf diese Weise mehrsprachig aufgewachsen. Der Treuhänder hat zuerst die Lehrer für Kurdisch entlassen und anschließend Zarokistan in einen türkischsprachigen Kindergarten umgewandelt.

 

Mit Dekreten gegen die Zivilgesellschaft in Kurdistan

Am 11. November 2016 wurden per Dekret insgesamt 370 zivilgesellschaftliche Organisationen, die mehrheitlich in kurdischen Provinzen tätig sind, eingestellt – mit der Begründung, sie stünden „in Beziehung zu einer terroristischen Organisation“. Drei Monate später wurden sie dann komplett geschlossen und ihr Eigentum staatlicherseits beschlagnahmt. Die Mehrzahl dieser Nichtregierungsorganisationen waren in der Stadt, in der ich lebe, in Diyarbakır, aktiv oder haben von dort aus ihre Dienste in anderen kurdischen Provinzen angeboten. Darunter waren Vereine, die sich für die Armutsbekämpfung einsetzten, wie Sarmaşık oder der Rojava-Verein, Frauenvereine wie VAKAD oder der Muş, Vereine, die sich der Entwicklung der kurdischen Sprache und Kultur widmen wie Kürdi-Der, Kulturzentren wie Tigris-Euphrat, Vereine, die sich den Knochen der „Verschwundenen“ und deren Massengräbern aus den 1990er Jahren widmen wie MEYADER, der kurdische PEN, Kinder- und Menschenrechtsvereine. Vereine wie Migrationsverein GÖC-DER, die nicht einmal in den 1990er Jahren geschlossen wurden, hat es jetzt getroffen. Im Januar 2017 wurden mit einem weiteren Dekret sogar der Verein der Fans von Dersimspor und andere Sportvereine geschlossen.

 

2014, als der Friedensprozess noch andauerte, habe ich eine detaillierte Arbeit über die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Kurdistan unter dem Titel „Kürdistan’da Sivil Toplum“ verfasst. Während dieser Forschung habe ich gesehen, wie lebendig, vielfältig, widerstandsfähig und stark entwickelt die Zivilgesellschaft in Kurdistan ist. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass Kurden über einen langen Zeitraum unterdrückt waren und dagegen verschiedene Organisationsformen entwickelt haben. Da es kaum eine kurdische Familie gibt, die diesen Druck nicht spürt und beginnend im Mutterleib die Menschen Zeugen dieser Unterdrückung sind, ist es Teil des täglichen Lebens, sich gegenseitig zu helfen und zu versuchen, die Schmerzen der anderen zu lindern.

Sich in den 1990er Jahren in Kurdistan zu entscheiden, in der Zivilgesellschaft aktiv zu werden, bedeutete auch mutig zu sein. Allen Widerständen zum Trotz hat sich in der Region in den 2010er Jahren eine unglaublich lebendige Zivilgesellschaft etabliert. Frauen-, Umwelt-, LGBT-Vereine oder Nichtregierungsorganisationen ethnischer und religiöser Minderheiten haben sich schnell vermehrt. Was diese Vereine verbindet, ist ihr Bezug zu Kurdistan und dass sie für den Kampf der Kurdenrechte stehen. Daraus ist eine Zivilgesellschaft entstanden, die den Status quo herausfordert, auf Freiwilligkeit basiert und nicht von ausländischen Geldgebern abhängig ist. Es ist eindeutig, dass der Staat mit der Schließung der Vereine das Ziel verfolgt, die Solidarität innerhalb der kurdischen Gesellschaft zu brechen.

 

Endet die Solidarität, der Kampf?

Aber kann man einen jahrelangen Kampf mit einem Dekret stoppen? Kann der Staat in Kurdistan mit der Schließung von Vereinen und Kulturzentren, mit der Androhung von Gefängnis und Arbeitslosigkeit diese Solidarität zerstören? Um dies zu beantworten, muss man sich die Entwicklungen nach der Schließung dieser Vereine und Kulturzentren ansehen.

 

Das Großstadttheater, das durch den Treuhänder geschlossen wurde, wurde als privates Theater unter dem Namen Amed Stadttheater wiedereröffnet. Das im Februar eröffnete Theater ist fast immer voll, auch wenn es nur über einen sehr bescheidenen Saal verfügt.

 

Der Kindergarten Zarokistan, der durch den Treuhänder in eine türkischsprachige Einrichtung umgewandelt wurde, wurde im April unter großer Anteilnahme der Bevölkerung als privater Kindergarten wiedereröffnet. Das geschlossene Aram Tigran Konservatorium führt in einem anderen Zentrum seinen Kunstunterricht weiter. Bei der Zivilgesellschaft sieht man denselben Mut und Widerstand. Die Aktivisten von geschlossenen Nichtregierungsorganisationen versuchen ohne institutionellen Rahmen ihre Arbeiten fortzuführen. Plattformen gründen sich, einige machen unter anderen Namen weiter, die Arbeiten gehen in anderen Lokalitäten weiter, manchmal auch einfach in Cafés. In diesem Prozess steigt die Solidarität in der Stadt und sie wird weiterwachsen.

 

Ein Freund von mir, der im städtischen Kulturzentrum gearbeitet hat und durch den Treuhänder entlassen wurde, versucht eine Kunstinitiative zu gründen. Ich habe ihn Mitte Mai auf der Straße getroffen. Noch bevor ich ihn bemitleiden konnte, hat er sich an mich gewendet und gesagt, „der Treuhänder hat uns mit unserer Entlassung einen Gefallen getan. Schau doch, wir sind alle aktiv geworden, wir gründen alles wieder, nur noch stärker“.

 

Diese Beispiele zeigen, dass der Staat unsere Vereine schließen und uns unter Druck setzen kann, die Solidarität und den Kampf der Menschen in Kurdistan kann er aber nicht auslöschen! Der Grund dafür ist, dass wir uns diesen Kampf und diese Solidarität schwer erkämpft haben. Mit einem Stück Papier kann man das nicht unterbinden!


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