Helmut Holter - 1. Mai 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Brexit & Kultur

Keep calm and carry on!


Europäische Bildungsprogramme nach dem Brexit

Cornwall im Sommer 2017. Die Sonne scheint in diesem Jahr nicht ganz so glänzend vom blauen Himmel wie in der Sonntag-Abend-Serie von der Insel, in der unglücklich Getrennte wieder zusammen- oder frisch Verliebte ihr neues Glück finden. Aber hier im Süden Englands ist nicht nur die Küste und Natur ursprünglich und achtungseinflößend, hier weht noch der erhabene Wind des British Empire, hier ist Großbritannien immer noch „Britain at its best“.

 

Nicht weit von Cornwalls Küste entfernt, in einem alten herrschaftlichen Anwesen aus der Tudor Zeit – Heinrich der VIII. soll hier auch mal abgestiegen sein – serviert der National Trust, der sich in ganz Großbritannien um den Erhalt alter Gebäude und Gärten kümmert, im alten Schweinestall „cream tea“ und lokale Kuchenspezialitäten. Alles vorzüglich britisch, sodass sich ein Gespräch mit den beiden englischen Damen hinter dem Kuchenbuffet ergibt. Nach einigen ausgetauschten Höflichkeiten, „Where are you from?“, „Oh yes, Angela Merkel is a powerful woman …“, wollen sie wissen, wie in Deutschland der Brexit bewertet wird, und da bekommt die Harmonie zwischen dem partnerschaftlich agierenden Team hinter dem Kuchen-Buffet plötzlich einen sichtbaren Riss. Die Mittsiebzigerin erzählt von der guten alten Zeit, als alles noch seine Ordnung hatte: „We used to buy our butter from New-Zealand, but we turned our back on the friends from the Commonwealth!“. Dagegen formuliert die frisch examinierte Literaturwissenschaftlerin, sie und ihre Freunde wären geschockt gewesen über den Ausgang des Referendums vom 23. Juni 2016, keiner hätte dafür gestimmt und so würden jetzt die jungen Leute um ihre Zukunft in einem vereinten Europa gebracht. Nichts beschreibt den existenziellen Riss, der sich seit dem EU-Referendum durch die britische Gesellschaft zieht, besser als diese real erlebte Szene.

 

Obwohl David Cameron mit der Ankündigung des Referendums nur seine parteiinternen Widersacher beruhigen wollte, führte seine Strategie zu einem innenpolitischen Desaster. Europa befindet sich seit jenem denkwürdigen Datum in einer gefährlichen Krise. Es bleibt weitgehende Ratlosigkeit über die tatsächlichen Konsequenzen für Europa und das Vereinigte Königreich, da helfen weder starke Worte der Premierministerin noch die Charmeoffensive der königlichen Familie. Seit der am 27. März 2017 rechtlich wirksam ausgesprochenen Kündigung der EU-Mitgliedschaft sind die Verhandlungen mit der EU um einen geordneten Rückzug des Vereinigten Königreichs aus der Staatengemeinschaft der Europäischen Union kaum vorangekommen. Es sieht vielmehr so aus, dass bis zum Austrittstermin, dem 29. März 2019, alle zu regelnden Aspekte kaum noch in einem geordneten Verfahren rechtzeitig abschließend beraten werden können.

 

Wie sich die weitere Kooperation zwischen den 27 verbleibenden EU-Staaten und dem Vereinigten Königreich in den Bereichen Politik, Finanzwirtschaft, Industrie und Kultur entwickeln wird, scheint insofern völlig offen. Die EU-Kommission jedenfalls setzt auf einen harten Verhandlungskurs. Das wird auch in einem Bereich deutlich, der sicherlich nicht im Zentrum der politischen Agenda steht, der allerdings für die EU und auch für das Vereinigte Königreich einen hohen symbolischen Wert hat.

 

Im Rahmen des EU-Bildungsprogramms Erasmus+ (2014 bis 2020) veröffentlichte die EU-Kommission Ende Oktober den „Aufruf zur Einreichung von Anträgen“ für die Antragsrunde 2018. Und hier heißt es ohne Vorankündigung für Antragsteller aus dem Vereinigten Königreich in einem sehr knapp gehaltenen Absatz: „Sollten die Austrittsverhandlungen nicht ordnungsgemäß vor Ende März 2019 abgeschlossen werden können, können britische Einrichtungen nicht mehr an Erasmus+ teilnehmen und entfällt die Finanzierung für britische Einrichtungen in EU-Projekten“. Ist das wirklich vorstellbar, Erasmus+ ohne die Beteiligung des Vereinigten Königreichs?

 

Ein Blick zurück auf die Anfänge der bildungspolitischen Kooperation in Europa in den 1990er Jahren ruft in Erinnerung, dass damals gerade die Briten besonders aktiv waren. Die meisten Anträge unter den „zentralen Aktionen“, die direkt in Brüssel von der EU-Kommission verwaltet wurden, legten britische Einrichtungen vor. Und auch bei den Bewilligungsquoten lagen die Briten immer vorne. Zudem waren und sind britische Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf europäischen Veranstaltungen unverzichtbar. Sie sind quasi das Salz in der Suppe, fachlich auf der Höhe der Zeit und für die geselligen Abende ein „must have“, sodass europäische Kooperation im Bildungsbereich ohne die Briten einfach nicht denkbar ist.

 

Die Ankündi­gung der EU-Kommission, die Beteiligung britischer Einrichtungen infrage zu stellen, sollten die Austrittsverhandlungen nicht firstgerecht abgeschlossen sein, führt jedoch zu erheblicher Unsicherheit bei deutschen und europäischen Partnern. Wie dieser Passus genau zu interpretieren ist, beantwortet die EU-Kommission bislang auch auf Arbeitsebene nicht. Es überwiegt deshalb der Eindruck, dass hier Druck aufgebaut werden soll, um die britische Seite zu mehr Bewegung in den Verhandlungen zu zwingen. Denn der Wert der Teilnahme an Erasmus+ auch nach einem erfolgten Brexit ist für britische Einrichtungen nicht zu unterschätzen. Dass hier nicht von beiden Seiten eine Lösung gefunden wird, ist deshalb letztlich kaum vorstellbar. Das hohe Ansehen, das sich Erasmus+ und Erasmus in seiner 30-jährigen Erfolgsgeschichte bei jungen und mittelalten Europäern erworben hat, darf nicht achtlos infrage gestellt werden und muss auch nach dem Brexit eine stabile Brücke bilden, über die sich das Vereinigte Königreich und Europa weiter intensiv austauschen. So wie im Forschungsbereich ist Erasmus+ ohne die Briten nicht vorstellbar, und alle Beteiligten scheinen zu wissen, was hier auf dem Spiel steht. Aus informellen Quellen heißt es, die britische Seite würde selbstverständlich sicherstellen, dass alle finanziellen Verpflichtungen britischer Einrichtungen an Erasmus+ bis zum Ende der Programmlaufzeit 2020 übernommen werden. Offizielle Informationen dazu gibt es bislang jedoch nicht.

 

Vielleicht hilft in dieser nebulösen Situation auch ein bekanntes britisches Sprichwort: „Keep calm and carry on“. Anträge mit britischen Partnern oder Koordinatoren sollte man in Erasmus+ deshalb durchaus stellen. Die deutsch-britische Zusammenarbeit im Bildungsbereich und die britisch-europäische Zusammenarbeit im Rahmen der EU-Bildungsprogramme haben sich über Jahrzehnte hinweg bewährt und werden bis 2020 und hoffentlich auch darüber hinaus im Rahmen der nächsten Generation der europäischen Bildungsprogramme eine gute Zukunft haben. Das Inte­resse an Kontakten mit britischen Bildungseinrichtungen im Schulbereich ist in Deutschland auf jeden Fall nach wie vor ungebrochen. Hier jetzt vorschnell langjährige Partnerschaften und Kontakte aufzugeben, wäre aus meiner Sicht ein fataler Fehler.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2018.


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