Georg Krawietz - 1. September 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Brexit & Kultur

Enttäuschung und Verunsicherung


Die Folgen des EU-Ausstiegs für den Universitätsbetrieb in Großbritannien sind gravierend

Den Morgen des 24. Juni 2016 wird man an britischen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen gewiss noch lange in Erinnerung behalten. Die überwältigende Mehrheit im akademischen Betrieb hatte sich leidenschaftlich für einen Verbleib in der EU stark gemacht. Die Mühe war vergebens, wie sich zeigte, denn eine knappe Mehrheit der 33,6 Millionen, die insgesamt abstimmten (51,89 zu 48,11 Prozent), sah es anders und votierte nicht für „Remain“, sondern für „Leave“.

 

Universities UK, die britische Rektorenkonferenz mit 134 Mitgliedshochschulen, hatte bereits kurz nach der Parlamentswahl im Mai 2015 die Kampagne „Universities for Europe“ gestartet, die auch vom DAAD unterstützt wurde. Das Schwergewicht der Argumente lag auf den Kooperationsvorteilen innerhalb Europas. Erst danach folgte der Hinweis auf die finanziellen Vorteile, die britische Hochschulen aus diversen EU-Programmen, vor allem im Forschungsbereich, ziehen. So lag der britische Finanzierungsanteil am 7. EU-Forschungsrahmenprogramm (2007-2013) bei 5,4 Milliarden Euro, zugewiesen wurden ihnen aber 8,8 Milliarden Euro. Ebenso erfolgreich waren britische Institutionen bei Anträgen für European Research Council (ERC) Grants. Zwischen 2007 und 2015 warben sie 636 Grants ein, deutlich mehr als der nächstplatzierte Deutschland (441) mit ihren Forschungseinrichtungen und Universitäten. Um diese und andere Vorteile nicht zu verlieren, gingen einige Hochschulleitungen so weit, ihre Mitarbeiter und die Studierenden per Rundmail dazu aufzufordern, sich am Referendum zu beteiligen und, mehr oder minder offen formuliert, für »Remain« zu stimmen – ein ungewöhnlicher Schritt, der den Ernst der anstehenden Entscheidung verdeutlichte.

 

Es gab Gegenpositionen aus Hochschule und Wissenschaft, aber in wesentlich geringerer Zahl. Die britische Forschung sei auch unabhängig von EU-Förderprogrammen Weltklasse und ein Austritt öffne neue Wege zu anderen, nicht-europäischen Forschungszentren. Warum die EU die britische Forschung bisher daran gehindert haben sollte, dies zu tun, blieb dabei meistens im Ungefähren. Ein weiterer Argumentationsstrang lautete, dass nach einem Austritt des EU-Nettobeitragszahlers UK das eingesparte Geld auf nationaler Ebene ohne EU-bürokratische Hindernisse direkt an die britische Wissenschaft verteilt werden könne. Für eine solche nationale Forschungsförderung in der Zukunft müssten aber zunächst Mechanismen geschaffen werden. Dies könnte theoretisch in Anlehnung an das alle sechs Jahre durchgeführte Forschungsexzellenzermittlungsverfahren erfolgen, zuletzt 2014 als „Research Excellence Framework“ (REF) durchgeführt. Dieses Prozedere ist allerdings personell und kostenmäßig höchst aufwändig und erfolgt nicht zuletzt deshalb nur in größeren zeitlichen Abständen. Eine weitere Frage ist, ob die Wissenschaft das Nötige erhält, wenn auch andere Bereiche, die bisher EU-Förderungen erhalten haben, etwa die Landwirtschaft und die Regional- und Strukturförderung, Bedarfe in Westminster anmelden. Und das wird passieren, wie das Beispiel der Region Cornwall – die trotz hoher EU-Subventionen paradoxerweise für einen Austritt gestimmt hat – bereits zeigt.

 

Hinsichtlich EU-geförderter Wissenschaftsprojekte werden bereits wenige Wochen nach dem Referendumsentscheid die Folgen deutlich. Berichtet wird von Konsortialbewerbungen für mehrjährige Vorhaben im Rahmen von „Horizon 2020“, in denen britische Teilnehmer gebeten wurden, von einer bisher vorgesehenen Senior- in eine (leichter ersetzbare) Juniorrolle zu wechseln. In einzelnen Fällen soll sogar zum Rücktritt geraten worden sein. Zugenommen haben Anfeindungsfälle mit xenophobem und sogar rassistischem Charakter, auch an Hochschulen. Sie sind die Folge einer, vorsichtig formuliert, irrational geführten, unfairen und oftmals an niedere Instinkte appellierenden Kampagne des Austrittsbefürwortungslagers, die viele in einem Land mit einer jahrhundertealten Kultur der Akzeptanz und des Miteinanderlebens von Bevölkerungsgruppen verschiedenster Herkunft nicht für möglich gehalten hätten. Hierzu gehört auch ein aufgeflammtes und von vielen Betroffenen so noch nie erlebtes Misstrauen gegenüber Akademikern, die als Experten mehrheitlich vor den negativen Folgen eines Austritts gewarnt hatten und dafür von Politikern wie dem ehemaligen Justizminister Michael Gove und der konservativen, dabei mehrheitlich EU-feindlichen Presse heftig attackiert wurden. Die Grenzen zur Verleumdung waren hierbei mitunter fließend und der Vorwurf, mit angeblich manipulierten Zahlen zu operieren, noch vergleichsweise milde.

 

Forschung muss nicht nur finanziert, sondern auch „gemacht“ werden. Die innereuropäische Freizügigkeit in der EU schafft dafür sehr gute Voraussetzungen. Britische Hochschulen bieten mit ihren relativ hierarchiearmen und flexiblen Strukturen attraktive Entwicklungspotenziale. Knapp 30 Prozent oder 55.000 Personen des forschenden und lehrenden Gesamtpersonals stammt von außerhalb des UK. Davon sind rund 32.000 Personen, die ca. 16 bis 17 Prozent der insgesamt an britischen Universitäten Tätigen ausmachen, EU-Staatsangehörige. An forschungsstarken Hochschulen ist ihr Anteil noch höher und liegt eher bei 20 Prozent und darüber.
5.250 Deutsche stellen 16,5 Prozent aller forschenden und lehrenden EU-Staatsangehörigen im Land. Sie bilden damit nicht nur den höchsten EU-Anteil; den zahlenmäßig ersten Rang belegen sie auch in der Gesamtbetrachtung des internationalen Personals mit individuellem Arbeitsvertrag an britischen Einrichtungen. Ihr Anteil liegt dann immer noch bei etwa 9,5 Prozent. Der überwiegende Teil ist langjährig und dauerhaft an einer britischen Institution tätig. Innerhalb von zwei Jahren nach offiziell erklärtem Austrittsgesuch der britischen Regierung, das man kaum vor Ende 2016 erwartet, wird sich für Deutsche und weitere EU-Staatsangehörige nichts ändern. Nichtsdestotrotz gibt es bereits jetzt, mit Blick auf die mittelfristige Verbleibsperspektive, Fälle von Verunsicherung und eines individuell unterschiedlich ausgeprägten Empfindens von „Nicht mehr willkommen sein“. Institutionell soll es aufgrund der veränderten politischen Lage ebenfalls schon zu Fällen von aufgeschobenen Arbeitsverträgen, die mit EU-Staatsangehörigen prinzipiell vereinbart waren, gekommen sein.
Verunsicherung begleitet aktuell auch Studierende aus der EU. Erasmus-Studierende sind im UK von Studiengebühren befreit. Außerhalb von Erasmus entrichten EU-Bürger, die einen kompletten Bachelorstudiengang absolvieren, bislang „home fees“. In England, dem Landesteil mit den meisten Hochschulen, sind dies in aller Regel 9.000 Britische Pfund pro Jahr, die auch für das Nicht-EU-Land Schweiz verhandelt wurden. Alle anderen internationalen Studierenden zahlen die weitaus teureren „overseas“ oder „non-EU fees“. Die Durchschnittsgebühren pro Jahr für Bachelorstudiengänge liegen dann in Hörsaal-basierten Studiengängen bei 12.719 GBP (+41 Prozent), in laborbasierten bei 14.655 GBP (+63 Prozent) und in klinischen Kursen bei 24.190 GBP (+170 Prozent). Die Prozentangaben verstehen sich jeweils im Vergleich mit „home fees“ laut „THE International and postgraduate fee survey 2015“.

 

Ist eine „Schweizregelung“ für ganz EU-Europa mit 27 Mitgliedsstaaten, die nach erfolgtem Austritt des UK weiterhin lediglich „home fees“ zahlen würden, denkbar? Zweifel scheinen angebracht, denn durch den weitgehenden Rückzug des Staates aus der Studienfinanzierung sind britische Hochschulen auf entsprechende Gebühreneinnahmen angewiesen. Ihr Anteil am Universitätshaushalt kann zwischen 40 und 45 Prozent ausmachen. Im Zuge der Gleichbehandlung haben EU-Studierende bislang Zugang zu den staatlich finanzierten Gebührenvolldarlehen für das grundständige Studium der „Student Loans Company“ (SLC) und unterliegen den gleichen nachgelagerten und sozialverträglich ausgestalteten Rückzahlungsbedingungen. Sie werden darüber hinaus ab dem kommenden akademischen Jahr Gebührenstipendien für ein Masterstudium (im UK meist einjährig) in einer Gesamthöhe von 10.000 Britischen Pfund in Anspruch nehmen können. Ob nach einem vollzogenen „Brexit“ beide Möglichkeiten weiterhin bestehen bleiben, muss bezweifelt werden.

 

Und das ist aus Sicht vieler akademisch Verantwortlicher, die Studierende nicht primär als Gebührenzahler betrachten, kein geringes Problem. Aktuell stammen von rund 440.000 internationalen Studierenden, die für ein ganzes Studium an britischen Universitäten eingeschrieben sind, etwa 125.000 oder 28,5 Prozent aus EU-Mitgliedsstaaten. Darunter sind ca. 13.700 Deutsche (mit 11 Prozent die größte Gruppe aus einem EU-Land). EU-Studierende erbringen zwar weniger Gebühren, werden aber ob ihres intellektuellen Beitrags und der daraus resultierenden „classroom balance“ mit britischen und den weiteren gut 70 Prozent non-EU internationals geschätzt. Wird ihre Zahl nach einem EU-Austritt und erheblich höheren Gebühren sinken? Dies hätte auch Nachteile für die „internationalisation at home“ britischer Studierender. Sie neigen aus vielerlei Gründen – z. B. mangelnde Fremdsprachenkompetenz, straffes Bachelorstudium und meistens lediglich einjährige Masterprogramme mit nur geringen Mobilitätsfenstern – weniger dazu, im Ausland zu studieren. Die starke Präsenz internationaler Studierender, im Durchschnitt ca. 18 bis 19 Prozent und ihre Durchmischung, schafft dazu bisher einen gewissen Ausgleich.

 

Viele britische Hochschulen haben EU-Studierenden für das kommende akademische Jahr 2016/17 bereits zugesichert, dass es bei den bisherigen reduzierten „home fees“ bleiben wird, wie dies in der Zukunft aussehen wird, weiß derzeit niemand. Die Freizügigkeit für Personen, ihren Wirkungsort selbst zu bestimmen, ist ein Kernelement vieler EU-Programme. Sie gilt für die Forschungsförderung wie die Studierendenmobilität. Jede Einschränkung hier wird Folgen für die weitere Beteiligung britischer Universitäten haben. Von den auszuhandelnden Bedingungen wird es abhängen, ob am Ende eine begrenzte Beteiligung (ohne inhaltliches Mitspracherecht) oder der völlige Ausschluss erfolgt. Für die britische wie die europäische Wissenschafts- und Hochschullandschaft ist beides eindeutig negativ. Ohne den wichtigen britischen Beitrag droht der Wissenschaftsraum Europa als Ganzer zu verarmen. Auch der Wettbewerb mit anderen Wissenschaftsregionen der Welt wie Nordamerika und Ost- wie Südostasien würde leiden.
Die Begrenzung der Zuwanderung und die Wiedergewinnung der Kontrolle über die eigenen Grenzen war vermutlich der durchschlagendste, mit Gift getränkte Argumentationspfeil im Köcher der Brexit-Befürworter. Dies wird die neue Regierung in London nicht außer Acht lassen können. Die ehemalige Innen- und neue Premierministerin Theresa May war zwar keine Austrittsbefürworterin. In ihrem früheren Amt hat sie aber eine harte Linie gegen ein „Zuviel“ von Einwanderung vertreten. Internationale Studierende wurden dabei nicht ausgeklammert. Im Gegenteil wurde ihnen eine „Mitschuld“ gegeben, denn zu viele von ihnen blieben nach Studienabschluss im Land. Wie will die neue Regierung die negativen Folgen, die sich hieraus auf akademischem Gebiet und für die bisher so offene britische Gesellschaft als Ganzes ergeben können, eindämmen? Eine Antwort auf diese Frage fällt zumindest heute schwer.


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