Bruno Kern - 27. August 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kolonialismus-Debatte

Theologie der Befreiung – Befreiung der Theologie


Von Grundinhalten zur Weiterentwicklung

Es ist ein einmaliger Vorgang innerhalb der 2.000-jährigen Geschichte der christlichen Kirchen: Zum ersten Mal entsteht ein grundlegend neuer theologischer Denkansatz an den Rändern der Weltkirche und unter den Opfern kolonialer und neokolonialer Herrschaft. Nach einer Phase heftigen innerkirchlichen Streits um die angeblich „marxistisch infizierte“ Befreiungstheologie erkannte Papst Johannes Paul II. deren Stellenwert: In einem Schreiben an die brasilianischen Bischöfe aus dem Jahr 1986 stellte er sie in eine Reihe mit den großen Etappen der theologischen Entwicklung von den antiken Kirchenvätern über die mittelalterliche Scholastik bis hin zu den Aufbrüchen der Theologie im 20. Jahrhundert. Die Soziallehre der katholischen Kirche ist heute ohne die grundlegenden Einsichten der Theologie der Befreiung gar nicht mehr denkbar. Und weit über Lateinamerika sowie über die Grenzen der christlichen Konfessionen hinaus hat dieses neue Paradigma der Theologie weltweit theoretische wie praktische Neuaufbrüche inspiriert.

 

Ende der 1960er Jahre fassten lateinamerikanische Theologen den Grundinhalt der biblischen Botschaft im Stichwort „Befreiung“ zusammen. Damit widersprachen sie nicht nur einer spiritualisierenden Tendenz der Verinnerlichung und Verjenseitigung dieser Botschaft. Der Begriff war von unmittelbarer politischer Brisanz. Er bildete den Gegenbegriff zu „Dependenz“, d. h. Abhängigkeit. Damit eignete man sich eine ganz bestimmte ökonomische Analyse an, nämlich die sogenannte „Dependenztheorie“, die der „Entwicklungsideologie“ entschieden widersprach: Die Situation der Länder des globalen Südens ist kein retardiertes Stadium, das mithilfe einer nachholenden Entwicklung zu überwinden wäre, sondern eine Situation der Abhängigkeit von den ökonomischen Zentren. Die „Unterentwicklung“ der Länder der Peripherie ist lediglich die Kehrseite der „Entwicklung“ des Zentrums. Theologisch brisant daran war aber die Einsicht: Eine Theologie, die ihr Subjekt nicht verfehlen will, muss dieses Subjekt in seinen konkreten historischen Bedingungen wahrnehmen. Eine Theologie, die nicht unbewusst und ungewollt zur Ideologie der Herrschenden werden will, muss mit einer ökonomischen Analyse als ihrem ersten methodischen Schritt beginnen. Allerdings: Die Wahl des analytischen Instrumentariums ist nicht beliebig. Sie hängt vom eigenen gesellschaftlichen Standort ab. Jede Gesellschaftsanalyse hat zu bedenken: Derjenige, der sie analysiert, gehört ja selbst dem untersuchten Gegenstand an. „Objektivität“ im landläufigen Sinne ist hier nicht möglich. Und hier kommt das zentrale Stichwort der Befreiungstheologen ins Spiel: die vorrangige Option für die Armen. Eine Gesellschaft offenbart ihren wahren Charakter erst vom Standpunkt derer aus, die faktisch von ihr ausgeschlossen sind. Bibeltheologisch begründen die Befreiungstheologen diese Einsicht mit der Erkenntnis, dass der biblisch bezeugte Gott durchaus parteiisch ist, im gesellschaftlichen Konflikt unbezweifelbar auf der Seite der Armgemachten steht. Vom Exodusereignis als dem Grunddatum der ersttestamentlichen Gotteserfahrung bis zur Reich-Gottes-Botschaft Jesu selbst lässt sich zeigen, dass die Universalität des Heilsangebots genau diese Parteilichkeit zur Voraussetzung hat: Gerade weil Gott das Leben aller will, offenbart er sich zuerst bei denen, die faktisch von diesem Leben ausgeschlossen sind.
Damit ist bereits der zweite methodische Schritt der Befreiungstheologie bezeichnet: Die „sozialanalytische Vermittlung“, also die ökonomische Analyse der Situation, ist begleitet von der „hermeneutischen Vermittlung“, der Beurteilung dieser Situation im Licht der eigenen biblischen Tradition. Die Befreiungstheologen laufen hier keineswegs in die Falle eines biblischen Fundamentalismus. Der konsequente Standort bei den Armgemachten ermöglicht jedoch die Wiederentdeckung zentraler Grundmotive, die in einer allzu sehr den Herrschenden verpflichteten Theologie verschüttet waren. So etwa machen uns die Befreiungstheologen auf den vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel zentralen Gegensatz zwischen dem „Gott des Lebens“ und den „Götzen der Unterdrückung“ aufmerksam und zeigen, wie Letztere dem Grundcharakteristikum der kapitalistischen Ökonomie korrespondieren, seinem „Fetischcharakter“: Das, was aus den Köpfen und Händen der Menschen selbst hervorgeht, verselbstständigt sich, gewinnt Gewalt über sie, entfaltet seine Eigendynamik, und die Menschen werfen sich davor „in den Staub“.

 

Theologische Reflexion schwebt nicht im luftleeren Raum. Sie hat ihren gesellschaftlichen Ort, ihre Verankerung in einer konkreten gesellschaftlichen Praxis. Sie ist ein „Moment“ dieser Praxis selbst, oder wie Gustavo Gutiérrez, der „Vater“ der Befreiungstheologie, formuliert hat, „kritische Reflexion einer historischen Praxis im Lichte des Glaubens“. Die Subjekte der Theologie sind nicht in erster Linie die professionellen Theologen, sondern die Armgemachten selbst, die sich in vielfältigen Formen – Basisgemeinden, Landlosenbewegung usw. – solidarisch organisieren. Mit diesem „Primat der Praxis“ setzen die Befreiungstheologen die erkenntnistheoretische Einsicht um, dass Denken immer schon eingebettet ist in die reale Lebenstätigkeit der Menschen und ihre emanzipatorischen Bestrebungen.

 

Auch nach 50 Jahren ist die Befreiungstheologie höchst lebendig und fruchtbar. Der überzeugendste Ausdruck ihrer Lebensfähigkeit ist ihre Weiterentwicklung zu einer „Ökotheologie der Befreiung“, wie sie vor allem Leonardo Boff geleistet hat. Die dringendste soziale Frage weltweit gesehen – so Boff – ist die ökologische Frage, die nicht einfach durch eine neue Technik zu bewältigen ist, sondern ein neues Paradigma unseres Weltverhältnisses erfordert.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.


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