Nora Steen und Theresa Brüheim - 27. August 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kolonialismus-Debatte

Raus aus der eigenen Filterblase


Das Christian Jensen Kolleg in Breklum interpretiert Mission neu

Pastorin Nora Steen leitet seit 2018 das Christian Jensen Kolleg, ein Bildungs- und Tagungszentrum der Nordkirche, im nordfriesischen Breklum. Der Gründer der Breklumer Mission, Christian Jensen, bildete Ende des 19. Jahrhunderts dort Missionarinnen und Missionare aus. Heute füllt das Kolleg seine Tradition mit neuem Leben und positioniert sich als Ort des gesellschaftlichen Austauschs über Glaubensgrenzen hinweg.

 

Theresa Brüheim: Frau Steen, seit über einem Jahr leiten Sie das Christian Jensen Kolleg im nordfriesischen Breklum. Was ist das Christian Jensen Kolleg und was macht es?

Nora Steen: Breklum hat eine lange Tradition in der Missionsgeschichte. Christian Jensen gründete hier vor knapp 150 Jahren eine Mission. Mit der Zeit überlebten sich die Missionszentren und die Frage kam auf: Was tun wir mit diesem Ort? 2005 entstand daraus eine gemeinnützige GmbH: das Christian Jensen Kolleg, ein Bildungszentrum der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Norddeutschland, der sogenannten Nordkirche. Es gibt verschiedene Tagungsangebote, die sich um Ökumene, gesellschaftlichen Dialog und vor allem Nachhaltigkeit drehen. Wir haben drei Schwerpunkte: klassische Akademiearbeit, Bildungsarbeit und spirituelle Angebote.

 

Inwieweit steht das Kolleg mit der heutigen Arbeit noch in der Tradition Christian Jensens, der evangelisch-theologische Missionare ausgebildet hat?

Christian Jensen gründete die Mission hier 1873. So lang ist das noch nicht her. Er war Pastor der Breklumer Kirchengemeinde. Von hier aus wurden Frauen und Männer in die ganze Welt geschickt. Für die damalige Zeit war das sehr ambitioniert. Nordfriesland ist Weideland weitab von allem. Man muss erst mal auf die Idee kommen, in dieser kargen Gegend einen Ort aufzubauen, von dem aus Menschen in weite Ferne nach China oder Indien gehen. Das finde ich bis heute bewundernswert. Jensen fragte: Was braucht die Welt? Was brauchen die Menschen? Anfangs gründete er in Breklum eine Druckerei. Er hatte gemerkt, dass die Leute es nicht schafften, in die Kirche zu gehen. Sie arbeiteten auf den Feldern, die Wege waren weit. Die Kirche musste zu den Menschen kommen. Seine Verlagstätigkeit war rege, jede Woche gab er ein Sonntagsblatt in 5.000-facher Auflage heraus. Das wurde in der gesamten Region verteilt – sehr fortschrittlich. Dann gründete Jensen hier auch ein Krankenhaus und Gymnasium. Er war nach innen und außen tätig.

 

Neben Männern wurden auch Frauen, die nach Breklum kamen, zu Missionarinnen und Missionaren ausgebildet. Sie mussten keine Theologen sein, sondern sie sollten überzeugt das Evangelium in die Welt hinaustragen.

 

Für unsere heutigen Ohren mag das seltsam klingen. Aber damals waren sie Pioniere. Sie sind Wege gegangen, die absolut unkonventionell für ihre Zeit waren.

 

Bis heute ist das eine große Stärke dieses Ortes: Wir schauen, was braucht unsere Zeit, wo ist es gut, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen und eigene Ideale zu verfolgen. Die Formen und die Sprachmuster haben sich natürlich ganz und gar geändert. Mission bedeutet heute nicht mehr, dass wir Menschen in Indien oder Afrika den christlichen Glauben nahebringen wollen. Es ist eher umgekehrt: Wir sollten aus den Ländern des Südens lernen, wie Kirchen wieder missionarischer sein können. Bis heute ist es so geblieben, dass wir sehr interessiert an einem Dialog sind, an einem Austausch mit Menschen, die aus anderen Kulturen kommen, die anders denken als wir. Wir möchten Theorie und Praxis miteinander verbinden. In möglichst vielen Lebensbereichen.

 

Es war bei Christian Jensen auch so, dass die Lehre, die reine Bildung immer mit der Praxis verknüpft war. Man hat in Breklum Theologie getrieben, um in die Welt rauszugehen. Diese Verbindung möchte ich wieder stärker freilegen, weil ich wirklich glaube, dass wir Erfahrungsräume brauchen und sich nur so bestimmtes Wissen in ein anderes Handeln transformieren lässt.

 

Wir sind heutzutage überfrachtet mit Wissen, Theorien und so weiter. Aber wie können wir tatsächlich anders leben? Das ist ein Punkt, an dem es nicht nur im individuellen Leben, sondern auch gesamtgesellschaftlich schwierig wird. Wir haben hier oben in Nordfriesland das Wattenmeer direkt vor der Tür. Die Gezeiten geben den Takt vor – ob ich will oder nicht. Die Natur zeigt mir die Grenzen meines Handelns. Das ist eine großartige Lehrschule für den Umgang mit unserer Welt. Auch dafür, jetzt schleunigst vieles zu ändern. Am Christian Jensen Kolleg möchte ich Angebote schaffen, in denen Menschen gemeinsam etwas erleben, indem sie rausgehen aufs Watt oder sich im Herbst Vogelzüge angucken. Die Vogelvielfalt am Wattenmeer ist unglaublich. Die Vögel überwintern in Portugal oder ziehen nach Afrika. Das Thema Globalisierung wird dann handgreiflich und spürbar – und auch, was sich ändert, wenn wir zu stark in diese Abläufe der Natur eingreifen.

 

Mit Anfang 40 zählen Sie zu den jungen Stimmen in der modernen „Missionsarbeit“. Wie beurteilen Sie den Generationswechsel, der allmählich in diesem Arbeitsfeld stattfindet?

Persönlich denke ich, dass es vor allem ein Wechsel von Formen und Sprachmustern sein wird: Wie rede ich über meinen Glauben und in welchen Formen verorte ich ihn?

 

Aktuell haben wir noch eine Generation, die ihre Anliegen sehr stark aus politischem Impetus heraus vertritt. Aber jetzt müssen die Jüngeren übernehmen. Die werden das aber nicht in der Weise tun, wie es in den letzten Jahrzehnten gelaufen ist.

 

Viele Themen sind natürlich immer noch relevant, z. B. die Verantwortung für die Schöpfung. Dass wir uns selbst begrenzen müssen, wenn wir diesen Planeten retten wollen, ist ein zutiefst biblisches Bild. Oder die Frage der Nächstenliebe: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Dieser Satz aus dem Neuen Testament wird wieder aktuell, wenn wir auf die Geschehnisse an den Grenzen Europas im Mittelmeer schauen.

 

Wie gehen wir mit denen um, die nicht unmittelbar zu Familie und Freunden gehören, sondern die uns erst mal fremd sind? Da ist das christliche Grundanliegen sehr aktuell. Aber wir müssen unsere guten Inhalte auch so an jüngere Generationen herantragen, dass sie damit was anfangen können. Aus meiner Sicht ist das die größte Frage des Generationswechsels: Wie können wir das hinkriegen? Wie können wir digitale Zusammenkünfte und Dialog für unsere Themen nutzen? In anderen Bereichen ist das längst normal, im kirchlichen Bereich bislang eher die Ausnahme.

 

Welche Impulse wollen Sie als Leiterin des Christian Jensen Kollegs setzen? Welche „neuen Formen“ fördern Sie?

Mir ist es wichtig, zu zeigen, dass wir mit unseren Themen aktuell sind. Christian Jensen hat da weit vorausgedacht. Er wusste, es ist wichtig, über den Tellerrand hinauszuschauen und uns mit anderen Denkmustern und Kulturen zu konfrontieren. Das ist modern und zeitgemäß. Allerdings besteht für eine kirchliche Einrichtung heute die Herausforderung weniger darin, unsere Inhalte nach Indien oder Südamerika zu tragen. Wir wissen, dass dort die Kirchen wachsen, im Gegensatz zu jenen in Europa.

 

Wir müssen vielmehr nach innen schauen. Da sehe ich für uns große Herausforderungen. Wenn ich nach Deutschland gucke, sehe ich verhärtete Fronten innerhalb unserer Gesellschaft. Viele Gruppen reden nicht mehr miteinander. Wir sind nach innen nicht mehr sprachfähig. Es ist einfacher, sich mit einer indischen Partnergruppe zu treffen, als zu sagen: Ich rede jetzt mit Menschen, die die AfD wählen – aber nie sagen würden: „Ich bin rechtsextrem“. Im August hatten wir einen Workshop „Diskutieren lernen mit Andersdenkenden“. Da war dieser „Clash der Kulturen“ viel, viel stärker.

 

Das ist eine ganz große Aufgabe, die ich im weitesten Sinn als unseren missionarischen Auftrag verstehe. Nicht im Sinne von: „Ich erzähle euch, dass ihr alle zum Christentum wechseln sollt“ – das hat Jesus in der Weise auch nicht gemacht. Sondern: Wir wollen Räume öffnen, wo Menschen miteinander in Austausch kommen können, die es von allein niemals tun würden. Raus aus der eigenen Blase, rein in das gemeinschaftliche Denken. Das machen wir in Breklum. Vor Kurzem gab es einen Workshoptag mit Jugendlichen, die bei „Fridays for Future“ organisiert sind. Sie wollten die Verantwortungsträger aus dem Kreis Nordfriesland treffen. Die Jugendlichen haben dabei zum ersten Mal politische Verantwortliche und Fachleute von Firmen der regenerativen Energien getroffen. Das klingt banal, aber es passiert ansonsten selten. Man lebt aneinander vorbei und trifft sich selten. Dies zu ändern und Räume der Begegnung über kulturelle Grenzen hinweg zu schaffen, ist unser Anspruch als kirchliches Bildungskolleg.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interwiev ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.


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