Andreas Feldtkeller - 27. August 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kolonialismus-Debatte

Die Ausbreitung des Christentums


Zur Entstehung von Missionsgesellschaften

In Deutschland kam es während des 19. Jahrhunderts zu einer Gründungswelle von Missionsgesellschaften. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte es so scheinen, als würde es sich dabei um eine religiöse Spielart des Kolonialismus handeln, der für Deutschland ebenfalls auf das 19. Jahrhundert zu datieren ist. Gemessen an der gesamten Ausbreitungsgeschichte des Christentums sind die deutschen Missionsgesellschaften jedoch ein sehr spätes Kapitel, das sich nicht verstehen lässt, ohne wenigstens einige Voraussetzungen aus der vorangehenden Geschichte geklärt zu haben.

 

Die Idee, mit einer religiösen Praxis die ganze Menschheit erreichen zu wollen, gehört ursprünglich in einen völlig anderen Zusammenhang: Sie wurde vor 2.500 Jahren in Indien vom Buddhismus entwickelt. Ausgangspunkt dafür ist die Überzeugung, dass es einen Mangel gibt, von dem alle Menschen betroffen sind – hier die Gefangenschaft im Kreislauf der Wiedergeburten –, und dass eine Praxis gefunden wurde, die diesem Mangel abhilft, nämlich der „edle achtfache Pfad“, der zur Befreiung aus dem Kreislauf führen soll. Auch das in Westasien entstandene Christentum hatte von Anfang an die Absicht, die ganze Menschheit zu erreichen – erneut aus der Überzeugung heraus, dass es einen Mangel gibt, von dem alle Menschen betroffen sind – die durch den „Sündenfall“ gestörte Beziehung zu Gott –, und dass die eigene religiöse Praxis dem abhelfen kann.

 

Für mehr als zwei Drittel der bisherigen Ausbreitungsgeschichte des Christentums war Europa die wichtigste Zielregion christlicher Mission. Nachdem diese zunächst weitgehend mit friedlichen Mitteln betrieben worden war, kam es auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands zu der folgenschweren Entwicklung, dass die Christianisierung mit Eroberungskriegen verbunden wurde. Vorbereitet durch Kriege Karls des Großen im heutigen Niedersachsen wurde der erste Eroberungskrieg in missionarischer Absicht von Kaiser Otto dem Großen im 10. Jahrhundert gegen Gebiete begonnen, die heute in Sachsen-Anhalt und Brandenburg liegen. In den unterworfenen Gebieten wurden Klöster gegründet, zu deren Aufgaben es gehörte, die einheimische slawische Bevölkerung mit dem Christentum bekannt zu machen. Die Rollen von Soldaten und Mönchen waren dabei zunächst noch klar getrennt. Dies änderte sich jedoch als eine Folge der Kreuzzüge. Nun gab es sogenannte „Ritterorden“, die vom 12. bis zum 14. Jahrhundert die gewalttätige Christianisierung entlang der Ostseeküste bis zu den heutigen Baltischen Staaten vorantrieben.

 

An der neuzeitlichen Ausbreitung des Christentums von Europa aus war Deutschland dagegen für lange Zeit kaum beteiligt. Ein wichtiger Grund dafür war die Reformation. Die Evangelischen Kirchen waren als „Landeskirchen“ organisiert mit dem jeweiligen Landesfürsten als Oberhaupt. Sie sahen ihre Zuständigkeit auf das Territorium des Fürsten beschränkt. Hinzu kam, dass die Reformation für die evangelischen Gebiete die wichtigste Trägergruppe für missionarische Aktivitäten abgeschafft hatte: die Mönchsorden.

 

Die Gründungswelle von evangelischen Missionsgesellschaften im Deutschland des 19. Jahrhunderts ist vor diesem Hintergrund als Ausdruck einer Opposition gegen das monarchisch und territorial verfasste evangelische Landeskirchentum zu verstehen. Missionsgesellschaften entstanden aus der sogenannten „Erweckungsbewegung“ heraus, getragen von der Überzeugung, dass die biblischen Schriften einen Auftrag zur weltweiten Verbreitung des christlichen Glaubens enthielten. Sie organisierten sich als private Vereine und sammelten unter Privatleuten die finanziellen Mittel dafür, einen evangelischen Ersatz für die fehlenden Mönchsorden zu schaffen: die Aussendung von bezahlten, in der Regel verheirateten Missionaren in alle Welt, die von einer Missionszentrale aus betreut wurden.

 

Ein Vorläufer war im 18. Jahrhundert die Herrnhuter Brüdergemeine, gegründet von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Von Herrnhut aus zogen Missionare in ganz verschiedene Regionen der Welt – und dies mit einem Ansatz, der ausdrücklich gegen europäische Vormachtansprüche gestellt war. Ein Mitglied der Gemeinschaft verkaufte sich selbst als Sklave in die Karibik, um dort Sklaven predigen zu können; ein anderer wurde von den Buren aus Südafrika vertrieben, weil er mit seiner Bildungsarbeit die Unterwerfung des Volkes der Khoi-San gestört hatte.

 

Unter den bedeutenden deutschsprachigen evangelischen Missionsgesellschaften des 19. Jahrhunderts hatte die älteste zwar ihre Mitglieder vorwiegend in Württemberg, ihre Zentrale aber außerhalb von Deutschland: die Basler Mission, gegründet 1815. In der Schweizer Handelsmetropole war das gesellschaftliche Klima gegenüber einer solchen weltweiten Aktivität offener. In den folgenden Jahrzehnten entstand eine ganze Reihe von Missionsgesellschaften mit Sitz in unterschiedlichen deutschen Territorien. Ihre privaten Trägervereine unterschieden sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Milieus, aus denen sie ihre Mitglieder und auch ihre Missionare rekrutierten. Die Hermannsburger Mission (1849) in der Lüneburger Heide oder die Neuendettelsauer Mission (1853) in Mittelfranken hatten ein bäuerliches Umfeld, die Gossner Mission (1836) in Berlin sprach vor allem ein handwerkliches Milieu an, während die Berliner Mission (1824) von frommen Bildungsbürgern unterstützt wurde.

 

Aus dem Bereich des deutschen Katholizismus ging einer der wichtigsten katholischen Missionsorden hervor, die Societas Verbi Divini (SVD), gegründet 1875. Auch in diesem Fall verhinderten Spannungen mit der preußischen Monarchie die Gründung in Deutschland, weshalb das Ordenszentrum in das niederländische Steyl verlegt wurde. Erst nach dem Ende des Kaiserreiches konnte 1919 in St. Augustin ein deutsches Ordenszentrum gegründet werden.

 

Von ihren Entstehungsbedingungen her stand keine der genannten Gesellschaften in einem Zusammenhang mit deutscher Kolonialherrschaft oder auch nur in der Gunst der jeweiligen deutschen Territorialfürsten. Als nach der Wiederbegründung des Deutschen Kaiserreiches der Erwerb von deutschen Kolonien zunächst diskutiert und dann verwirklicht wurde, verteilten sich die Akteure der bereits bestehenden deutschen Missionsgesellschaften auf das gesamte Spektrum möglicher Positionen von strikter Ablehnung bis zu eindeutiger Befürwortung.

 

So war beispielsweise die Neuendettelsauer Mission gegenüber der Errichtung deutscher Kolonialherrschaft in ihrem bereits bestehenden Missionsgebiet Neuguinea überwiegend kritisch eingestellt, während die Leitung der Rheinischen Mission sich von einer deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia Vorteile versprach und diese unterstützte.

 

Das Grundproblem einer Verstrickung deutscher Missionsgesellschaften in den Kolonialismus besteht in einer auch unter Missionaren weitverbreiteten Überzeugung, dass die europäische Zivilisation anderen Kulturen überlegen sei und deshalb gemeinsam mit dem Christentum verbreitet werden müsse. Nur eine Minderheit von Missionaren hatte genug Weitblick, sich dem Weltbild europäischer Überlegenheit klar entgegenzustellen; die Mehrheit nahm teil an einem kolonialen Lebensstil und profitierte von den Privilegien, die Europäer in Kolonialgebieten genossen.

 

Die Last der kolonialen Vergangenheit wurde seit den 1950er Jahren in der weltweiten Missionsbewegung kritisch aufgearbeitet. Als Konsequenz daraus wurde in Deutschland ein Teil der evangelischen Missionsgesellschaften umgeformt in Organisationen der zwischenkirchlichen Partnerschaft, in denen die wechselseitigen Beziehungen zwischen Kirchen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa gepflegt werden.

 

Die Vereinte Evangelische Mission in Wuppertal und die Evangelische Mission in Solidarität in Stuttgart haben dabei eine gleichberechtigte Beteiligung der Mitgliedskirchen auch an der Organisationsform hergestellt, während beispielsweise Mission Eine Welt in Neuendettelsau oder das Berliner Missionswerk als Nachfolgeorganisationen ehemaliger Missionsgesellschaften kirchliche Werke geworden sind, in denen die Partnerschaftsbeziehungen in alle Welt von Deutschland aus gestaltet werden.

 

Das Evangelische Missionswerk (EMW) in Hamburg ist ein 1975 gegründeter Dachverband sowohl von kirchlichen Werken wie den eben genannten
als auch von Missionsvereinen, die weiterhin privatrechtlich organisiert sind.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.


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