Paul Spies und Theresa Brüheim - 21. Dezember 2017 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Humboldt Forum

Raum für Partizipation und Weltdenken


Die Berlin-Ausstellung im Humboldt Forum

Berlin ist das Tor zur Welt – zumindest im Neubau des Stadtschlosses. Theresa Brüheim spricht mit dem Chef-Kurator des Landes Berlin im Humboldt Forum, Paul Spies, über die Konzeption der Berlin-Ausstellung sowie die Bedeutung von Internationalität und Teilhabe.

 

Theresa Brüheim: Herr Spies, die Berlin-Ausstellung im Humboldt Forum soll sich mit dem Austausch Berlins mit der Welt beschäftigen. Was macht Berlin für Sie zu einem globalen Schmelztiegel?
Paul Spies: Erst mal, ich bin Holländer, ich bin ganz pragmatisch. Wenn ich an eine Ausstellung herangehe, untersuche ich zuerst die Lage. Und im Humboldt Forum werden zwei Stockwerke von einem ethnologischen und einem asiatischen Kunstmuseum bewohnt. D. h., hier ist die Welt anwesend. Was kann ich als Leiter des Berliner Stadtmuseums besser tun, als eine Einleitung für die anderen Museen zu schaffen, in der ich Berlins Verbindung zur Welt klarmache? Denn in den Sammlungen sehen wir die Welt. Unten gibt es Berlin, oben die Welt. Wenn ich mich auf die internationalen Aspekte der Stadt konzentriere, hat das noch einen Vorteil. Ich komme so den lokaleren Geschichten meiner anderen fünf Häuser – Märkisches Museum, Ephraim-Palais, Knoblauchhaus, Nikolaikirche und Museumsdorf Düppel – nicht in die Quere.
Um Ihre Frage zu beantworten, heute ist Berlin international eine wahnsinnig populäre Stadt. Das war mal anders. Berlin hat eine sehr widersprüchliche Geschichte. Aber das ist der Grund, warum die Stadt so geschätzt wird. Es gab hier viel Raum. Diese industriellen Brachen haben neue internationale Interessen nach Berlin gebracht. Mittlerweile kann man fragen, wie viel Freiraum gibt es noch? Es wurde und wird alles international eingenommen. Die Stadt ist eine Art Magnet.
Diese Internationalität hat uns dazu bewogen, nicht nur die Geschichte Berlins oder Deutschlands zu beleuchten. Wir haben auch Europa mitgenommen. Wir haben eine Zusammenarbeit mit dem Museum Europäischer Kulturen gesucht, denn wir fanden es überraschend, dass Europa nicht im Humboldt Forum aufgenommen wurde. In diesem Sinne ist das Humboldt Forum eine riesige Chance, Geschichte integriert zu erzählen – das ist weltweit ein Alleinstellungsmerkmal.
Wir machen mit der Ausstellung kein City-Marketing, es ist eine kritische Auseinandersetzung. Es werden auch unschöne Geschichten erzählt. Internationalität ist nicht automatisch Grund für Erfolg, Wachstum oder positive Entwicklungen. So ein Berliner Magnet hat auch negative Seiten. Die Geschichte von Berlin reicht von Kreation hin zu Vernichtung. Und das ist ein Spiegel der Welt.

 

Die Ausstellung basiert auf neun inhaltlichen Punkten: Berlin-Bilder, Revolution, Mode, Migration, Krieg, Freiräume, Grenzen, Vergnügen, Weltdenken. Wieso haben Sie gerade diese ausgesucht?
Wir wollten keine chronologisch traditionelle Ausstellung machen. Wir wollten eine Ausstellung über Themen machen, die durch die Berliner Zeiten gehen. Es sind nicht die einzigen Themen dieser Stadt. Berlin war Hauptstadt der Revolution, des Vergnügens, der Freiräume, des Krieges. Das kann man von anderen Städten auch behaupten, aber für Berlin sind das richtige Akzente in der Geschichte. Sie haben die Mentalität dieser Stadt mitbestimmt. Natürlich kann man dann sagen, da fehlt noch dies oder das. Aber wir können nie komplett sein.
Es gibt nicht nur negative Themen wie Krieg und Grenzen. Es gibt auch positive. Und Zweifelsfälle. Was ist z. B. Revolution? Ist es positiv oder negativ? Aus Revolution kann Gewalt entstehen. Das kann man nicht nur positiv umschreiben. Auch Freiraum ist so ein großes Thema dieser Stadt. Gibt es den noch immer? Auch in dem Maße wie in den 1980er und 1990er Jahren? Oder sind die Freiräume bedroht? Auch Mode hört sich wunderbar an. Aber was wir über Mode erzählen, ist eine sehr kritische Betrachtung. Berlin ist Modestadt – besonders in den 1960er und 1970er Jahren. Vielleicht nicht wie Paris, aber der Kurfürstendamm, Uli Richter – das war schick! Mode muss man aber auch weiterdenken: Design, Lebensstil, Ausstrahlung, Image. Deshalb kommen viele gern nach Berlin. Im 19. Jahrhundert wurde Mode von armen Leuten in Hausateliers im Dunkeln für sehr wenig Geld gemacht. Heute ist es nicht viel anders, nur wird sie in Bang­ladesch, Indien und China hergestellt. Noch immer stimmt die schöne Außenseite nicht mit der Produktionsseite überein. Und wir sind noch immer dafür verantwortlich. Das ist eine Erzählung, bei der man damals und heute vergleichen kann, aber es spielt nicht nur Berlin, sondern die ganze Welt mit.
Für alle Themen gilt, dass es international dominante Aspekte der Stadt Berlin, aber keine weltweiten Alleinstellungsmerkmale sind. Man nimmt diese Aspekte und lässt Leute, Bewohner, Berliner zu Wort kommen. So entstehen Erzählungen und Bilder der Stadt. Man bindet Stimmen außerhalb des Museums direkt ein. Auch am Ende der Ausstellung kann man die Besucher fragen: „Hat Ihr Berlin-Bild sich geändert, während Sie diesen Rundgang gemacht haben? Haben Sie jetzt ein anderes Weltbild?“ oder „Würden Sie das Berlin-Bild, das hier gezeigt wird, bestätigen oder kritisieren?“. Das ist ein partizipativer Gedanke.

Partizipation – Sie sprechen es schon an – ist das zentrale Element der Berlin-Ausstellung …

Genau. Schon im Vorfeld arbeiten wir mit Berliner Communities, denen wir Raum für ihre Meinung überlassen. Wir werden uns da nicht einmischen. Wir lassen eine Gruppe, z. B. Roma, zu Wort kommen, um mit ihrer Geschichte und Erfahrung eines der genannten Themen bzw. Berlin aus ihrer Perspektive zu erzählen. Vielstimmigkeit heißt, dass man viele Stimmen hört. Wir helfen dann bei der Gestaltung, sodass das Ganze professionell aussieht.

Nicht nur im Vorfeld, sondern auch während der Ausstellung ist Partizipation essentiell, oder?

Bei der Eröffnung gibt es fertige Räume, die wir mit den jeweiligen Gruppen vorbereitet haben. Sie sind deren Stimmen. Es gibt aber auch mindestens zwei leere Räume. Nicht so groß, aber doch als Zeichen, dass die Leute, die Besucher, die Institutionen eingeladen sind, Vorschläge zu machen. Die Partizipation entwickelt sich kontinuierlich. Ein paar Monate später darf eine andere Stimme über ein Thema zu Wort kommen. Mit jeder neuen „Generation“ ändert sich der Raum wieder. Wichtig ist mir auch, dass dieser Geist der Partizipation im ganzen Humboldt Forum zu spüren ist. Wir wollen mit unserer Ausstellung auf die anderen Museen und Ausstellungen reagieren. Wir wollen keine Insel ohne Verknüpfung zum Festland sein. Ich habe von Anfang an die Zusammenarbeit gesucht und auch gefunden. Gemeinsam mit der Gründungsintendanz habe ich mir Gedanken gemacht: Wie können wir Schnittstellen herstellen? Wie können wir gemeinsame Programme entwickeln? Wie können wir mitmachen beim sogenannten Akademiegedanken? Das ist nicht leicht, weil alles in Entwicklung ist. Man kann nicht von Anfang an mit Resultaten kommen. Aber vieles, was wir produzieren, wird Teil einer Einheit sein. Wenn man die Ausstellung besucht, wird man in erster Instanz überhaupt nicht verstehen können, dass das Land Berlin sie gemacht hat. Vielleicht, wenn man am Ende das Kolophon liest, kann man es feststellen. Aber niemand macht das.

Partizipation findet nicht nur in der Ausstellung und im Schloss statt, sondern auch im Digitalen – auf der Webseite, in den sozialen Medien. Wie soll das genau aussehen und wie wird es die Ausstellung voranbringen?
Die Ausstellung wird Verbindungen mit dem haben, was im Netz passiert. Man kann, als digitale Methode, Umfragen schalten und die Resultate gleich zeigen. So erreichen wir weltweit Interessenten, die sich mit den Themen, die das Humboldt Forum setzt, auseinandersetzen. Mein Traum ist, dass es uns gelingt, am Ende des Rundgangs, sei es durch eine Umfrage oder ähnliches, eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Besuchern aus der ganzen Welt herzustellen. Und die stellen dann trotz ihrer Unterschiedlichkeit fest: „Wir haben ein gemeinsames Interesse – vielleicht sollten wir ins Gespräch kommen“. Das Humboldt Forum ist für mich ein möglicher Katalysator von Weltbürgerschaft. Ich hoffe aber auch, dass das Humboldt Forum in der Lage ist, zu experimentieren, wie man Leute, die Angst vor Globalität haben, mit Weltkultur in Verbindung bringen, Begegnungen für sie organisieren und ihnen diese Angst ein bisschen nehmen kann. Damit langsam klar wird, Diversität ist keine Bedrohung.

Eine Ebene höher betrachtet: Wieso ist gerade für diese Ausstellung Partizipation so grundlegend? Und ist sie die Zukunft der Museen?

Sehr gute Frage! Meine Antwort kennen Sie bestimmt schon: Ja, Partizipation ist die Zukunft! Aber gehen wir nochmal einen Schritt zurück, denn eigentlich ist Partizipation auch die Geschichte der Museen. Im 19. Jahrhundert wurde das Museum geschaffen, weil man ein kritisches, hochgebildetes Bürgertum schaffen wollte, dem so viele Leute wie möglich angehören. Es war eine Demokratisierungsbewegung. Das Museum versuchte, für alle da zu sein, schaffte es aber nicht immer. Aber es musste zumindest für alle erreichbar sein; es musste einen leichten Einstieg geben. Diese Kunst hat das Museum ein bisschen verloren. Nachdem ich den Job als Chef-Kurator angenommen habe, hat mich Gründungsintendant Neil MacGregor bei unserem ersten Telefonat gefragt: „How do we get the people from Neukölln to the Humboldt Forum?“ Noch immer ist diese Frage für mich zentral. Neukölln und das Humboldt Forum sind Symbole. Es geht nicht um Gebäude, es geht um das Institut, die Mentalität, den Outreach. Und das gilt für alle Museen. Museen müssen aufhören, ein Gebäude mit vier Wänden, einer Tür und Kasse zu sein, sie müssen auch draußen anwesend sein, die Leute vor Ort mit ihrer Kunst, Geschichte und Kultur ansprechen. Dieses grundsätzliche Interesse an den Menschen und der Vermittlung ihrer Geschichten – das ist für mich das Museum. Kunst und Kultur sind nicht für eine exklusive Gruppe. Es soll nicht nur bestimmte Leute geben, die das Museum als Akademiker betreiben und nur ihre Idee verwirklichen. Die Zukunft der Museen ist wie Technik und Social Media – sie sind für alle da. Zumindest sollte es das Angebot sein. Es wird nicht von allen benutzt. Aber es soll so offen und niedrigschwellig sein, dass sich theoretisch alle eingeladen fühlen und ein Teil davon sein können. Das ist eine Zukunft, die wir noch nicht erreicht haben. Eine Mentalitätsumkehrung muss stattfinden. Das ist experimentell, daher wird auch das Humboldt Forum ein Riesenexperiment, d. h. Trial and Error. Hoffentlich wird ein Error dann nicht so aufgefasst: „Ihr könnt es nicht“.

 

Was erwarten Sie sich von der Eröffnung des Humboldt Forums und was wünschen Sie sich für dessen Zukunft?
Von der Eröffnung erwarte ich mir, dass die Leute sich das Gebäude, die Institution und die Angebote auf eine angenehme Weise aneignen. Es soll kein Staats-, Landes- oder Museumseigentum sein, sondern ein Palazzo del Popolo. Ich hoffe auch, dass das Angebot so reich ist, dass die Leute denken: »Hier gibt es aber viel zu tun und zu sehen. Das schaffe ich nicht mit einem Besuch.« Ich erwarte auch, dass eine Ausstellung über Berlin von Anfang an sehr viele Touristen anzieht. Diese Ausstellung können sie dann auch in einer Dreiviertelstunde bewältigen. Unser großer Vorteil ist, dass man da vielleicht noch ein bisschen Energie für mehr hat – z. B. um im Humboldt Forum nach oben zu gehen. Ich erwarte also vom Humboldt Forum, dass es ein populärer, vielbenutzter Ort ist – sowohl von Touristen als auch Berlinern. Es gibt diese unterschiedlichen Atmosphären, denn es soll keine einheitliche, sondern eine differenzierte Erfahrung sein. Das Humboldt Forum ist ein Knoten in einem Netz, in dem unterschiedlichste Dinge zusammenkommen. Was ich mir für die Zukunft erhoffe, ist, dass es gelingt, das Humboldt Forum als dauerhaften Begegnungsort zu etablieren. Das birgt auch Gefahr in sich. Denn wenn man für alle offen sein will, muss man auch für alle da sein. Und das ist manchmal schwierig. Weil nicht alle mit angenehmen Erzählungen oder mit Positivismus kommen. In Zukunft möchte ich auch den Namensgebern, den Brüdern Humboldt, gerecht werden. Alexander war einer der ersten Antirassisten und Antikolonialisten. Er hat die Welt als Ganzes gesehen. Und Wilhelm hat es auf seine Art und Weise genauso gemacht. Sie waren unwahrscheinlich moderne Menschen. Daher wollen und sollten wir im Humboldt Forum Raum für sogenanntes Weltdenken bereithalten.

 

Vielen Dank.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2017.


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