Der janusgesichtige Beethoven
Christine Eichel berichtet über den zwiegespaltenen Komponisten
Noch eine Beethoven-Biografie? Genau, aber eine herausragend recherchierte und fesselnd geschriebene hat die Publizistin Christine Eichel, die viele Jahre die Kulturressorts der Magazine Cicero und Focus leitete, pünktlich zum Beginn der Feierlichkeiten des 250. Geburtstages von Ludwig van Beethoven vorgelegt. Mit Theresa Brüheim spricht sie über den messiehaft hausenden Komponisten und den temperamentvollen Ich-AGler – mit vielen Details, die zuvor nur wenigen bekannt waren.
Theresa Brüheim: Frau Eichel, Sie haben Ende letzten Jahres pünktlich zum Beginn des Beethoven-Jubiläumsjahres das Buch „Der empfindsame Titan“ vorgelegt. Was macht den Komponisten Ludwig van Beethoven zu einem solch empfindsamen Titanen?
Christine Eichel: Mit unserer Vorstellung des Titanen verbindet sich ein Heldentum, wie wir es aus dem mythologischen Kontext kennen – allgewaltig, mutig, tatkräftig. Das trifft auf Beethoven nur teilweise zu, denn er war ein zwiegespaltener Mensch, emotional zerrissen, hochsensibel, selbstzerstörerisch. Der gewalttätige Vater wollte ihn zum Wunderkind dressieren; so wurde Beethoven früh zum Einzelgänger, der zwischen Schuldgefühlen und Wutausbrüchen changierte. Später plagten ihn oft depressive Phasen, abgelöst von Grandiositätsgefühlen und unkontrollierter Aggression. Heute würden wir von einem janusgesichtigen Menschen sprechen. Das Wort „empfindsam“ hat aber auch einen geistesgeschichtlichen Hintergrund. Beethoven war von der literarischen Epoche der Empfindsamkeit geprägt – vor allem durch Klopstock, den ihm sein Bonner Lehrer Neefe nahebrachte. Ebenso prägend wurde der musikalische Stil der Empfindsamkeit. Im späten 18. Jahrhundert war es neu, Gefühle als welterschließend zu betrachten und auch musikalisch umzusetzen. Doch kein Komponist zuvor hat die emotionale Dimension von Musik derart konsequent ausgelotet wie Beethoven.
Wie stellen Sie Beethovens Ambivalenz im Buch dar?
Zum einen durch die Schilderung seiner schwierigen Freundschaften und Liebesbeziehungen, zum anderen durch Analysen seines musikalischen Werks. Beethoven ist der erste Komponist, der systematisch Regeln brach. Ich nenne ihn einen Rockstar seiner Zeit, weil er sowohl künstlerisch-ästhetisch als auch im gesellschaftlichen Umgang Konventionen missachtete. Somit ist er letztlich eine sehr moderne Figur. Noch immer fragen wir uns ja: Wie viel Anpassungsfähigkeit muss sein? Wo endet der Kompromiss, wo beginnt der Opportunismus? Beispielsweise weigerte sich Beethoven, bei einer Soirée seines wichtigsten Förderers Fürst Lichnowsky zu spielen. Nach einer handfesten Prügelei und einer wilden Verfolgungsjagd durchs Schloss schrieb er seinem düpierten Mäzen: „Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten wird es noch Tausende geben, Beethoven gibt es nur einmal.“ Kurz darauf entzog ihm Fürst Lichnowsky zeitweise die jährliche Unterstützung. Das hatte Beethoven durchaus in Kauf genommen. Dieser hochriskante Nonkonformismus, verbunden mit einem entzündlichen Temperament, beeindruckt bis heute.
Beethoven als Rockstar: Was veranlasste Sie zu diesem Vergleich? Können Sie uns weitere Beispiele nennen?
Schon mit seinem Habitus signalisierte er das Recht auf eine Ausnahmeexistenz. In Wien bemühte er sich anfangs, den modischen Gepflogenheiten der gesellschaftlichen Elite Rechnung zu tragen. Doch bald schon bewegte er sich nachlässig gekleidet und ungekämmt in der Sphäre des Adels; auf die damals übliche Perücke verzichtete er, weil er als Anhänger der Französischen Revolution solche Distinktionsmerkmale verachtete. Aus diesem Grund waren ihm auch Umgangsformen und Etikette egal. Er ist das erste Enfant terrible der Musikgeschichte, das Zugang zu höchsten Kreisen hatte. Als ihn eine betagte Gräfin auf Knien anflehte, er möge Klavier spielen, blieb er ungerührt auf dem Sofa sitzen. Diese Aufsässigkeit wirkte provozierend, ja sogar etwas verrückt, ganz so, wie man es heute bei einem Rockstar erwarten würde.
Ihr Buch ist anhand von sechs ikonischen Werken Beethovens aufgebaut. Welches Werk begeistert Sie am meisten? Welches empfinden Sie am prägendsten für Beethoven?
Auch hier faszinieren mich die Widersprüche. Fast zeitgleich zum liebenswürdigen Klavierstück Andante favori, das er seiner großen unglücklichen Liebe Josephine von Brunswick schenkte, komponierte er die später „Appassionata“ genannte Klaviersonate Nr. 23 f-moll. Sie steht für die Destruktion der Sonatenform zugunsten einer radikal eigenständigen Klangsprache. Besonders der Schlusssatz wirkt verstörend eruptiv und ist so neu, so verblüffend, so modern – da hält man wirklich den Atem an. Solche musikalischen Innovationen sind Beethovens Improvisationskunst geschuldet. Früh stellte er fest, dass er sein Publikum durch die äußerst beliebten Klavierimprovisationen erschüttern konnte. Sein Vater hat ihm das sogenannte „Fantasieren“ verboten; als Beethoven jedoch nach Wien übersiedelte, war es sein Ticket zum Erfolg. Das Publikum liebte die ungezügelte Emotionalität seiner Fantasien, die Überraschungen, die starken Kontraste und ungewöhnlichen Modulationen. Auch seine stupende Virtuosität stellte Beethoven improvisierend unter Beweis, mit nie gehörten Kaskaden irrwitzigster Läufe und Akkordfolgen. Aus dieser Erfahrung hat er kompositorisch geschöpft. Er bevorzugte den Regelbruch zugunsten der emotionalen Intensität. Aus diesem Grund gibt es auch keinen uniformen Personalstil Beethovens. Einen Mozart oder Haydn erkennen wir mühelos, bei Beethoven ist das nicht mehr ohne Weiteres möglich. Durch die enorme Variationsbreite seiner musikalischen Mittel splittert sich das Werk in einer fast unüberschaubaren Heterogenität auf. Allein wenn man die charmante Bagatelle „Für Elise“ mit der aufwühlenden „Appassionata“ vergleicht, ahnt man die ungeheure Vielfalt.
Was haben Sie bei der Recherche für Ihr Buch über Beethoven erfahren, was die wenigsten wissen?
Weithin unbekannt ist, dass er nicht nur unter starken Stimmungsschwankungen litt, sondern auch zum Medikamentenmissbrauch neigte und schwerer Alkoholiker war. Von seiner Labilität erzählen unter anderem seine Briefe. „Ich komme an diesem Morgen um vier Uhr erst von einem Bacchanal, wo ich sogar viel lachen musste, um heute beinahe ebensoviel zu weinen“, schreibt er beispielsweise einer Freundin und resümiert: „Rauschende Freude treibt mich oft gewalttätig wieder auf mich selbst zurück.“ Von dieser Bipolarität erfuhr ich erst durch meine Recherchen. Darüber hinaus war Beethoven unfähig, sichere Bindungen aufzubauen. Von Misstrauen und Selbstzweifeln gepeinigt, brach er immer wieder selbst mit engsten Freunden. Auch dass er in seiner Wohnung völlig verwahrlost hauste, ist überraschend. Da stand der ungeleerte Nachttopf unter dem Flügel, umgeben von Essensresten und Notenblättern, und in Ermangelung eines Schrankes lag die Kleidung auf den wenigen Stühlen. Heute würden wir von einem Messie sprechen. Es ist berührend, dass sich dieser misanthropische, tief unglückliche Mann musikalisch in ganz andere Sphären begeben konnte.
Beethoven war auch ein erfolgreicher Unternehmer im – wie wir es heute nennen – Arbeitsmarkt Kultur …
Ich nenne es die Ich-AG Beethoven. Er war der erste Komponist, der sich aus dem System des feudalen Mäzenatentums löste, indem er offensiv die Drucklegung seiner Werke betrieb. Haydn und Mozart hatten ihre Werke nur sporadisch veröffentlicht, Beethoven korrespondierte im Laufe seines Lebens mit fast 40 Verlagen, die er geschickt gegeneinander ausspielte, um höhere Honorare zu generieren. Durch das Erstarken der bürgerlichen Musikkultur gab es eine erhöhte Nachfrage nach Noten, daher bearbeitete er viele seiner Kompositionen für das Klavier oder kleine Kammermusikformationen. Damit erfand Beethoven ein neues Geschäftsmodell für Komponisten.
Die forcierten Drucklegungen beruhten daneben auf seiner Überzeugung, seine Werke hätten Ewigkeitswert. Das war noch sehr ungewöhnlich. Zu Beethovens Zeit produzierten Komponisten für den aktuellen Markt und wurden rasch vergessen. Er sah sich jedoch nicht mehr als musikalischer Dienstleister wie noch sein Lehrer Haydn, der quasi am Fließband Musik geliefert hatte und bei Hofe auf der Ebene eines Küchenchefs rangierte. Beethoven betrachtete sich als Künstler mit Sendungsbewusstsein. Deshalb nannte er sich auch nicht mehr Tonsetzer, sondern Tonkünstler. Und er hatte eine Mission: Ganz im humanistischen Sinne wollte er die Menschheit qua Musik erlösen. Philosophisch und literarisch hochgebildet, reklamierte er für sein Werk einen gleichberechtigten Status neben Literatur, Bildender Kunst und Philosophie. Das war ein Phasensprung im Selbstverständnis von Komponisten.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.
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