Richard C. Schneider und Theresa Brüheim - 30. Mai 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Jüdischer Alltag

Vier Formen des Antisemitismus


Richard C. Schneider im Gespräch über die Dokuserie „Die Sache mit den Juden“

Über zehn Jahre leitete Richard C. Schneider das ARD-Fernsehstudio in Tel Aviv. Nun hat er die Dokuserie „Die Sache mit den Juden“ veröffentlicht. Dabei skizziert er in vier Teilen à 20 Minuten vier verschiedene Ausprägungen antijüdischer Ressentiments und erklärt gewollte und ungewollte antisemitische Mechanismen. Im Gespräch mit Theresa Brüheim gibt er einen Einblick in Idee und Hintergründe der Dokuserie.

 

Theresa Brüheim: In Ihrer Doku­serie „Die Sache mit den Juden“, die aktuell in der ARD-Mediathek verfügbar ist, erklären Sie gemeinsam mit Experten, Wissenschaftlerinnen und Betroffenen Hintergründe und Phänomenbereiche von Antisemitismus. Wie kam es zur Dokuserie?

Richard C. Schneider: Die Idee ist nach dem Anschlag von Halle entstanden. Es war ursprünglich aber anders gedacht: Ich wollte zuerst eine vierteilige Dokumentationsreihe à 45 Minuten für das lineare Fernsehen über Antisemitismus in Europa machen. Jede Folge sollte ein Land beinhalten: Frankreich, Großbritannien, Ungarn und Deutschland. Anhand des jeweiligen Landes hätte ich eine bestimmte Form von Antisemitismus behandelt, z. B. Antisemitismus unter Muslimen in Frankreich. Gleichzeitig wollte ich angesichts des wachsenden Antisemitismus in Europa die übergeordnete Frage stellen: Was ist los mit dem Liberalismus in der europäischen Demokratie?

Dann kam Corona. Wir mussten uns auf eine neue Form und ein neues Konzept einlassen, denn Reisen waren ja nicht möglich. Ich habe dann versucht, innerhalb Deutschlands diese vier ­Aspekte des Antisemitismus zu behandeln. Dann ist das entstanden, was man heute sehen kann.

 

Die Doku besteht aus vier Teilen. Diese behandeln unterschiedliche Phänomenbereiche des Antisemitismus: „Von links“, „Unter Muslimen“, „Von rechts“ und „Im Alltag“. Was erwartet die Zuschauerinnen und Zuschauer in den jeweiligen Folgen?

Für die Fernsehproduktion beleuchten wir vier größere Formen von Antisemitismus: Das ist natürlich der Antisemitismus, den jeder kennt, von rechts außen. Es gibt mittlerweile einen auch in der Öffentlichkeit bekannteren muslimischen Antisemitismus. Und es gibt, was viele nicht wissen oder nicht wissen wollen, einen linken Antisemitismus. Dazu kommt der sogenannte Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, der rein von der Darstellung her sehr schwierig ist, denn dieser Antisemitismus spiegelt sich nicht groß in Situationen wider, sondern oft sind es nur Sätze oder kleine Geschichten. Wir haben uns dafür Elemente des alltäglichen Antisemitismus rausgesucht. Beispielsweise beschäftigt diese Folge sich auch mit Antisemitismus in der Unterhaltungsbranche und im Internet – das sind auch alltägliche Vorkommnisse.

 

Unter welches Ziel haben Sie die Dokuserie gestellt?

Im besten Sinne versucht man, ein Stück aufklärerische Arbeit zu leisten. Inwiefern das funktioniert und ankommt, da darf man so seine Zweifel haben. Gerade bei umstrittenen Themen, die den Leuten nicht angenehm sind, schauen sich meistens diejenigen diese Filme an, die eh schon besten Willens sind.

 

Welche Reaktionen haben Sie bisher erhalten?

Es gab viele Reaktionen vor allem zum sogenannten linken Antisemitismus. Viele wussten nicht, wie der sich manifestiert. Es gab natürlich auch etliche Linke, die wahnsinnig wütend reagierten und mich beschimpften. Es gibt einen sehr bekannten deutschen Intellektuellen, der sich durch diesen Film angesprochen fühlte – wenngleich nicht namentlich, aber inhaltlich – und dann in einem Artikel in einer deutschen Zeitung den ganzen Film als eine Verirrung bezeichnete.

Bei den anderen Folgen war manches bekannt, aber vielen waren die Strukturen und die Funktionsweisen nicht klar. Natürlich sind die Reaktionen, die wir erhalten haben, nicht repräsentativ, aber sie waren doch mutmachend. Es war schön, zu sehen, dass es Leute gibt, die aus der Dokumentation einen Erkenntnisgewinn gezogen haben.

Es ist natürlich auch völlig in Ordnung, eine fachliche Kritik zu erhalten. Leute haben auch die Dinge anders bewertet bzw. eingeordnet. Solange es nicht wüste antisemitische Beschimpfungen sind … aber die habe ich natürlich auch bekommen, ist ja klar.

 

Der Untertitel der Dokuserie lautet: „Gewollt oder Ungewollt: Über Mechanismen eines Vorurteils“. Welche Vorurteilsmechanismen wurden Ihnen beim Dreh nochmal besonders deutlich?

Kurz zu diesem etwas sperrigen Untertitel: Antisemitismus ist im Grunde genommen kein Vorurteil, Antisemitismus ist eine Weltanschauung. Es gab einige Wissenschaftler, die auch in diesem Film zu Wort kommen, die mir den Vorwurf gemacht haben, dass ich im Untertitel den Begriff „Vorurteil“ nutze. Ich habe ihn aber nach Rücksprache mit Juristen und Kollegen trotzdem verwendet. Denn wir versuchen gewollte und eben auch ungewollte Formen des Antisemitismus darzustellen. Es gibt viele Leute, die sind eigentlich guten Willens und merken gar nicht, dass das, was sie tun, antisemitisch ist. Darum habe ich das etwas neutralere Wort „Vorurteil“ gewählt und darum eben auch „gewollt und ungewollt“.

Was die Mechanismen betrifft, war für mich nichts davon neu – absolut nichts. Neu waren für mich die ebenfalls neuen Gefäße, in die dieses uralte Ding Antisemitismus hineingeschüttet wird: Am Schluss sind es bei der ganzen QAnon- und Coronaleugner-Nummer nur „die guten alten“ Weltverschwörungstheorien. Die sind ja nicht neu, nur ihre Darstellung ist es.

Seit vielen Jahren lebe ich in Israel und auch, wenn ich normalerweise ständig in Deutschland bin, ging das anfangs während der Pandemie nicht so einfach und ich habe diese ganze Coronaleugnungsgeschichte primär aus den Medien mitbekommen. Hier in Israel gibt es diese Auseinandersetzungen nicht und die Impfbereitschaft war auch sehr, sehr viel höher als in Deutschland. Als ich dann gesehen habe, dass sich wirklich von Yogalehrern bis zu Reichsbürgern alle gegen die Coronamaßnahmen versammeln, war es interessant zu sehen, wie das neu tickt. Ebenso die Vorgehensweise der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit – ich unterstelle den Leuten nicht, dass sie im Einzelnen antisemitisch sind, doch im Gesamten ist die Initiative problematisch. Im Interview für die Doku arbeitet der Jurist und Journalist Ronen Steinke sehr klar heraus, dass auch da wieder ein ganz klassisches antisemitisches Narrativ hervorgezaubert wird: Es gibt diese eine kleine Gruppe, die ist so mächtig, dass man aufpassen muss, sonst kriegt man Probleme. Da sind wir ganz schnell wieder bei der jüdischen Weltverschwörung und den Protokollen der Weisen von Zion. Und das ist gar nicht die Intention dieser Leute. Das ist mir völlig klar. Aber es passiert trotzdem.

In dem größeren Zusammenhang der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland macht das auch deutlich, dass ganz vieles überhaupt nicht aufgearbeitet wurde, dass dieses „Nie wieder“ überhaupt nicht durchdacht war, sondern sich immer nur auf die Vergangenheit bezog, aber nie auf die Frage, was heißt das denn wirklich in der Konsequenz für die Zukunft – und zwar nicht nur, was das jüdische Thema anbelangt, sondern auch für die Verteidigung von Freiheit, für die Verteidigung von Demokratie. Insofern sehe ich da auch Antisemitismus – übrigens wie immer in der Geschichte: Wir Juden sind immer ein bisschen die Kanarienvögel unter Tage. Wenn es gegen uns geht, dann geht es am Schluss immer gegen alle. Antisemitismus ist immer ein leider sehr gut funktionierendes Vorzeichen dafür, dass in einer Gesellschaft plötzlich etwas nicht mehr stimmt. Und dann sind die Juden natürlich immer die Allerersten, auf die man einhackt, aber es bleibt nicht dabei. Das geht viel tiefer und viel weiter.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/22.


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