Vorurteile sind Teil der Berichterstattung
Sprache und Erzählweise endlich von Klischees befreien
Die Deutungshoheit im Journalismus liegt hierzulande noch zu oft in der Hand von nicht behinderten Medienschaffenden. Sie entscheiden, wie über behinderte Menschen berichtet wird, welche Geschichten erzählt werden, und sie prägen das Bild von Behinderung hierzulande. Das Problem: Vorurteile und Berührungsängste sind Teil der Berichterstattung.
Wenn wir Journalistinnen und Journalisten in allen Berichten und Artikeln über z. B. Kunstschaffende mit Behinderung einmal die Diagnose wegließen – was bliebe übrig von der Geschichte? Ist die Behinderung der ausschlaggebende Punkt, warum wir berichten? Ist sie immer die Nachricht?
Hoffentlich nicht. Denn: Eine Behinderung ist nur ein Teil der Identität einer Person. Sie kann einen spannenden Beruf, ein Ehrenamt oder eine interessante Familiengeschichte haben. Gleichzeitig geht es nicht darum, die Behinderung zu verheimlichen oder zu beschönigen. Aber auch nicht alles „trotz“ der Behinderung zu tun, wie in einem Beispiel der Neuen Zürcher Zeitung. Dort heißt es: „Julia Häusermann ist Schauspielerin – und dies, obwohl sie Trisomie 21 hat“. Vielleicht ist sie aber einfach Schauspielerin mit Downsyndrom? Der Ansporn sollte sein, weg von emotionalisierenden Betroffenheits-Storys hin zu konstruktiven Geschichten zu gehen, an die die gesamte Gesellschaft anknüpfen kann. Diese und viele andere Hinweise gibt das Team von Leidmedien.de auch in Workshops mit Redaktionen weiter. Häufig sind wir dabei die ersten behinderten Journalistinnen und Journalisten, die die Redaktionsräume betreten. Gegründet wurde das Projekt des Vereins „Sozialheld*innen“ 2012.
Sensible Sprache
Die Berichterstattung über behinderte Menschen fußt seit jeher auf den in der Gesellschaft verbreiteten Blicken auf Behinderung. Besonders häufig gibt es den bemitleidenden oder den bewundernden Blick. Doch Mitleid oder Bewunderung sind aus Eigensicht der Protagonistinnen und Protagonisten häufig fehl am Platz, denn sie werden ihnen für alltägliche Dinge entgegengebracht.
Eine Person kann sich nach einem Unfall „an den Rollstuhl gefesselt“ fühlen, aber es bedeutet nicht, dass dies für alle Rollstuhlfahrende gilt. Für viele bedeutet ein Rollstuhl die Möglichkeit, von A nach B zu kommen. Trotzdem hält sich diese Floskel im Sprachgebrauch hartnäckig.
Auch „an einer Behinderung leiden“ ist ein gängiger Ausdruck in der deutschen Sprache. Doch das Wort Leid hat eine bestimmte, dramatische Konnotation. Dabei leiden die Menschen vielleicht gar nicht, sondern leben mit der Behinderung. Vielmehr leiden sie unter Barrieren und Diskriminierung.
Hier sollten Journalistinnen und Journalisten viel öfter in der Berichterstattung anknüpfen: Nicht nur berichten, welche Diagnose, Lebenserwartung oder etwaige Leiden eine Person mit Behinderung hat, sondern gerade auch, auf welche physischen und gesellschaftlichen Barrieren sie trifft und was wir als Gesellschaft tun können, um diese Barrieren aufzubrechen. Denn früher oder später betrifft Barrierefreiheit alle. Jeder und jede ist einmal auf Barrierefreiheit angewiesen, seien es Eltern, die mit Kinderwagen unterwegs sind, oder ältere Menschen. Barrierefreiheit geht uns alle etwas an, das bemerkte auch ein Rezensent der Rheinischen Post, der in Bezug auf die Barrierefreiheit einer Veranstaltung bemerkte: „Niemand wird von dieser Veranstaltung ausgeschlossen. Und auch wenn der Aufwand dafür groß ist, wirkt es wie ganz selbstverständlich. Eine Frage drängt sich auf: Warum ist das nicht immer und überall so?“
Sensible Sprache: Darf man überhaupt noch „behindert“ sagen?
Behinderung sollte unbedingt beim Namen genannt werden. Begriffe wie „Handicap“ oder „besondere Bedürfnisse“ sind der Versuch, die Fakten zu umschiffen, die eigene Unsicherheit zu verschleiern, obwohl doch gerade Medienschaffende das Rüstzeug haben, diese Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen: recherchieren, die Protagonistinnen und Protagonisten nach der Eigenbezeichnung fragen und sie überhaupt zu Wort kommen lassen, anstatt nur Eltern oder Pflegepersonal zu befragen. Und wenn sie wirklich nicht für sich sprechen können, dann muss dies auch von den Berichtenden transparent gemacht werden.
Bildsprache
In der Bildsprache ist als Symbol für Behinderung vor allem eines präsent: der Rollstuhl. Wahlweise mit nichtbehindertem Model, das man leicht an den zu hohen Knien im Sitzen erkennt, oder gleich ohne Person, inszeniert unter oder vor einer Treppe.
Wir brauchen mehr authentische Bilder von behinderten Menschen, die auch nur entstehen können, wenn sich Fotografen und die Menschen, die abgelichtet werden, austauschen. Kleinwüchsige Menschen oder Rollstuhlfahrende sollte man nicht von oben fotografieren, ansonsten ist gleich eine Hierarchie in der Bildsprache erkennbar. In vielen Perspektiven wird der Rollstuhl optisch vergrößert, er sieht sperrig aus, manchmal größer als die Person, die ihn benutzt. Das Problem klischeehafter Bilder ist ein hausgemachtes: Je mehr wir die ersten Treffer der Bilddatenbanken aus Zeitnot verwenden, desto mehr wird der Algorithmus darauf trainiert, die immer gleichen Bilder anzuzeigen.
In der Datenbank Gesellschaftsbilder.de zeigen wir echte behinderte Menschen bei ihrer Arbeit, in der Freizeit oder bei Veranstaltungen. Auch die Fotografinnen und Fotografen haben teilweise eine Behinderung und können sich so noch besser in ihre Models hineinversetzen, um gemeinsam Barrieren und die Überwindung dieser darzustellen.
Die Arbeitsweise folgt dem Prinzip des Disability Mainstreaming. Das bedeutet: Behinderte Menschen werden überall mitgedacht, weil sie Teil der Gesellschaft sind.
Im Journalismus hieße dies konkret: Sie sind Redakteurinnen oder Protagonisten, die nicht nur zum Thema Behinderung recherchieren bzw. befragt werden, sondern z. B. als Verbraucherinnen, Schüler und Arbeitnehmerinnen. In der Bildsprache bedeutet es: Das Thema Ausbildungsvergütung kann auch mit einem Auszubildenden im Rollstuhl bebildert werden.
Diversität in den Redaktionen
In den Redaktionen braucht es unbedingt mehr Zugänge für junge Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung, das fängt bei der Rampe vor dem Redaktionsgebäude an, aber muss vor allem in der Bereitschaft münden, andere Perspektiven wahrzunehmen und sich selbst zurückzunehmen. Deshalb ruft Leidmedien.de in diesem Jahr bereits zum dritten Mal ein Recherchestipendium für Journalistinnen und Journalisten mit Behinderung aus, die Bewerbungsfrist ist der 15. September.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.
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