Politische Bildung braucht Freiheit
Evangelisches Bildungszentrum Bad Alexandersbad fördert Engagement für Toleranz und Demokratie
Wunsiedel, eine Kleinstadt im Nordosten Bayerns, wurde seit 1987 zum „Wallfahrtsort“ der Neonaziszene, denn dort wurde der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß begraben. Dieser Umstand führte in der Region zu einem breiten zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechtsex-tremismus und in der Folge zu durchgreifenden politischen und juristischen Änderungen. Joachim Twisselmann ist seit 30 Jahren Referent für politische Bildung und stellvertretender Leiter des Evangelischen Bildungs- und Tagungszentrums Bad Alexandersbad im Fichtelgebirge. Engagiert hat er den Prozess begleitet und dazu beigetragen, dass „Nazis heute im Fichtelgebirge auf Granit beißen“.
Theresa Brüheim: Nach der Wende befand sich der strukturschwache ländliche Raum im Nordosten Bayerns in einer Abwärtsspirale. Sie schrieben 2011 retrospektiv über die damalige Ausgangslage, dass Politik, Verwaltung und Wirtschaftsverbände versuchten, durch gezielte Förderpolitik und Imagekampagnen neue wirtschaftliche und regionalplanerische Impulse zu setzen, aber alle Anstrengungen wesentlich auf die Mithilfe zivilgesellschaftlicher Einrichtungen, die das Vertrauen der Bürgerschaft haben, angewiesen waren. Welche Rolle kam dem Evangelischen Bildungs- und Tagungszentrum Bad Alexandersbad dabei zu?
Joachim Twisselmann: Nach den Grenzöffnungen 1989 verloren binnen ganz kurzer Zeit viele tausend Menschen hier ihre Arbeit in der Porzellanindustrie. Anders als etwa im Ruhrgebiet, wo im Strukturwandel um jeden Arbeitsplatz gekämpft wurde und die Arbeiter politischen Druck ausgeübt haben, fügten sich hier die Menschen zumeist still in ihr Schicksal. Bei Betriebsschließungen gab es oft noch einen Trauermarsch mitsamt einem ökumenischen Gottesdienst – und das war es dann.
Als evangelisches Bildungshaus haben wir zusammen mit dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) versucht, den Menschen energischer zur Seite zu stehen. Dazu konnten wir die „Bürgerbühne Fichtelgebirge“ realisieren: In einem Ausstellungsprojekt haben wir mit aktiven Bürgerinnen und Bürgern die Stärken der Region und ihrer Menschen visualisiert und Gespräche über neue Zukunftsideen initiiert. Weiterhin haben wir das kirchliche Netzwerk „Gemeinsam für die Region“ gegründet. Hier verbünden sich evangelische Gemeinden, die Dekanate, die Diakonie, der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt und Einrichtungen der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. Gemeinsam stellen wir uns die Fragen der regionalpolitischen Entwicklung, um unsere Region voranzubringen.
Heute sehen wir, dass sich schon viel verändert hat. Das Selbstbewusstsein der Menschen steigt wieder. Aktuell ist die Kampagne „Freiraum für Macher“ sehr erfolgreich: Wir haben hier im Fichtelgebirge viel Raum zum Leben und Wohnen und eine große Aufgeschlossenheit für innovative Projekte. In der modernen Wirtschaftswelt müssen viele Menschen ja nicht unbedingt am Standort der Firma arbeiten. Die Corona-Pandemie hat das Homeoffice noch mal vorangebracht. Viele Kreative können an einem beliebigen Ort sein – und ihre Ergebnisse in die Zentralen über die Medien spielen. Gerade aus den aus allen Nähten platzenden Münchener und Nürnberger Großräumen verzeichnen wir hier immer mehr Zuzug. Es bewegt sich etwas.
Als sei die Ausgangssituation in den 1990er Jahren nicht schon schwierig genug gewesen, kam hinzu, dass die bayerische Kleinstadt Wunsiedel, die nahe Bad Alexandersbad liegt, für einige Jahre zu einem bedeutenden Treffpunkt der Neonazis wurde. Rudolf Heß, den Hitler zu seinem Stellvertreter ernannte, lag von 1987 bis 2011 dort begraben. Sie haben sich auch aktiv gegen die Naziaufmärsche zum Grab und alles damit Verbundene eingesetzt. Wie sah das Engagement genau aus?
1987 hat Rudolf Heß sich das Leben genommen. Auf eigenen Wunsch wurde er im Familiengrab Wunsiedel bestattet. Als die evangelische Kirche der Bestattung auf ihrem Friedhof zustimmte, haben die Verantwortlichen wohl nicht geahnt, dass sie damit einen derart bedeutungsvollen Wallfahrtsort erschaffen.
Heß war der letzte Kriegsgefangene der Alliierten in Berlin-Spandau. Sofort nach seinem Tod gab es die These, er sei ermordet worden. Daraus speiste sich in der rechten Szene ein Mythos. An seinem Todestag gab es immer Gedenkmärsche, die die Kraft hatten, auch mehr Menschen anzusprechen. Rudolf Heß wird von den Braunen als „Friedensflieger“ dargestellt: Er habe versucht, den Krieg zu beenden, indem er einen Separatfrieden mit den Briten verhandelt habe. Er sei sozusagen der „gute Nazi“.
Ab 1988 nutzen Altnazis und Neonazis dann seinem Todestag im August, um sich in Wunsiedel zu treffen, an Heß zu erinnern und eben auch zu skandalisieren, dass er umgebracht worden sei.
Gleichzeitig gab es natürlich Gegendemonstrationen, sodass es zwischen 1988 und 1991 zu gewalttätigen Zwistigkeiten kam. Letztlich haben Verwaltung und Polizei gesagt: „Schluss, aus, Ende, hier wird nicht mehr demonstriert.“ Dann war in den 1990er Jahren auch erst mal Ruhe.
2001 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dann aber auf Antrag der NPD wieder zugelassen, dass Heß in Wunsiedel geehrt wird – mit der Argumentation, dass das Demonstrationsrecht von höherem Rang ist als das Problem, das daraus für die öffentliche Ordnung entsteht. Ab 2001 bis 2004 fanden wieder Demonstrationen statt. Und jedes Jahr kamen ungefähr 500 bis 1.000 Teilnehmende mehr hinzu. 2004 kamen mit Unterstützung aus ausländischen Gruppierungen – aus Dänemark, Ungarn, Polen, Frankreich, Italien, Österreich – etwa 4.500 Neonazis. Das hatte immer mehr den Charakter eines europäischen Treffens für die extreme Rechte. Parallel gab es heftige und große Gegendemos. Und noch mal so viel Polizei. Für einen Ort, der knapp 10.000 Einwohner hat, war die Belastung extrem.
Als Bildungshaus kam uns in dieser Situation die wichtige Rolle der Initiierung, Begleitung und Förderung von mittel- und langfristigen Gegenmaßnahmen zu. Entscheidend dabei war anfangs ein „Alexandersbader Gespräch“ vom Januar 2002: Michael Kohlstruck vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin referierte damals über den „Mythos Heß und die Herausforderungen für die Stadt Wunsiedel“. Zu dieser Zeit war gerade Kommunalwahlkampf in Bayern. Der CSU-Kandidat für das Bürgermeisteramt in Wunsiedel, Karl-Willi Beck, und Johanne Arzberger, eine der leitenden Persönlichkeiten der SPD, waren zu Gast. Kohlstruck hat es der Politik sehr deutlich gemacht: Jetzt muss etwas unternommen werden, um den guten Ruf der Stadt Wunsiedel zu schützen. Es bedarf nicht nur einer Gegendemo, sondern einer weitergehenden klaren politischen, bürgerschaftlichen und institutionellen Gegenstrategie. Wir brauchen dafür die Politik, die christlichen Kirchen, die Gewerkschaften, eben ein breites gesellschaftliches Bündnis, das Nein sagt zu den Nazis im Fichtelgebirge. Das ist gelungen und als Wunsiedler Doppelstrategie in die Geschichte eingegangen, denn neben dem bürgerschaftlichen Protest auf der Straße haben Politik und Verwaltung das juristische Verbot der Heß-Aufmärsche angestrebt.
2011 wurde das Grab aufgelöst. Wie ist die Situation aktuell?
Heute beißen die Nazis im Fichtelgebirge auf Granit. Die Braunen dürfen nicht mehr zum Heß-Todestag nach Wunsiedel kommen. Das ist einer unserer Erfolge. Wir haben eine Rechtsänderung auf den Weg gebracht. Durch unsere Initiativen ist der Paragraf 130 BGB, der Volksverhetzung verbietet, um den Artikel 4 ergänzt worden: Dieser Artikel 4 stellt nun ausdrücklich die Verherrlichung verurteilter Nazis unter Strafe. Das war vorher nicht der Fall.
Langfristig haben wir auf die Heß-Aufmärsche nicht nur mit Gegendemos geantwortet, sondern immer auch mit „Tagen der Demokratie“, in denen demokratische und menschenrechtlich orientierte Projekte öffentlichkeitswirksam unterstützt wurden. Wir wollen den Nazis stets etwas Positives entgegensetzen: „Wunsiedel ist bunt – und nicht braun!“
Ein weiterer Meilenstein war, dass wir ab 2006 im Alexandersbader Bildungszentrum eine „Projektstelle gegen Rechtsextremismus“ einrichten konnten. Hier hat seitdem auch das „Bayerische Bündnis für Toleranz – Demokratie und Menschenwürde schützen“ seine Geschäftsstelle. Inzwischen wirken hier 78 gesellschaftliche Organisationen mit – alles, was in Bayern Rang und Namen hat.
Eine große überregionale Bedeutung hat inzwischen auch das „Wunsiedler Forum“ gewonnen. Das ist ein jährliches Arbeitstreffen zwischen Kommunalpolitik, Verwaltung und Initiativen aus verschiedenen bayerischen Kommunen. Hier sitzen die verschiedenen Parteien konstruktiv am Runden Tisch – das hat große Strahlkraft und beseitigt viele Reibungsverluste in der regionalen politischen Kultur. Denn wir sind – bei allen sonstigen politischen Differenzen – darin geeint, dass wir diese undemokratischen und inhumanen Kräfte bekämpfen wollen.
Bedeutende Resonanz erreichte auch die Aktion „Rechts gegen Rechts – der unfreiwilligste Spendenlauf Deutschlands“ im Jahr 2014. Denn Wunsiedel ist leider nach wie vor Ziel von Naziaufmärschen. Heute vornehmlich am Volkstrauertag – unter der Überschrift „Opa war kein Mörder“. Dabei versuchen die Braunen, den Krieg zu relativieren und zu rechtfertigen. Aber wir sind dann immer mit Gegenaktionen präsent – die bisher spektakulärste eben 2014. Man kann heute noch im Internet die begeisterten Berichte darüber anschauen.
Wir sind also aus der Defensive herausgekommen und können uns über eine wache politische Kultur mit einer großen Vielfalt bürgerschaftlicher Initiativen freuen. Dabei verstehe ich meine Aufgabe als Referent für politische Bildung in einem kirchlichen Bildungshaus so, dass ich versuche, dies Engagement von bürgerschaftlichen Gruppen zu initiieren, zu unterstützen, zu stärken, zu qualifizieren, zu dokumentieren. Wir wollen uns nicht an die Spitze der Bewegung setzen. Hauptamt soll nicht Ehrenamt ersetzen.
Sie sprechen auch von einem Paradox: Die Herausforderungen durch das Heß-Grab haben zu breitem zivilgesellschaftlichen Engagement geführt und dadurch produktive politische Veränderungen erreicht.
So ist es. In Reaktion auf die rechtsextreme Bedrohung konnten wir dazu beitragen, in unserer Region eine deutliche Stärkung des demokratischen Bewusstseins und des Einsatzes für Toleranz und Menschenwürde zu entwickeln. Ohne diese heftigen Provokationen gäbe es viele wertvolle Initiativen nicht.
So ist es auch in unserem eigenen Haus: Hier haben wir inzwischen zwei hauptamtliche wissenschaftliche Stellen und eine Sekretariatsstelle in der Arbeit gegen Rechtsextremismus. Und wir koordinieren für die Landkreise Tirschenreuth, Wunsiedel, Hof sowie für die Stadt Hof und die Stadt Bamberg die Förderung durch das Bundesprogramm „Demokratie leben“. Das Evangelische Bildungszentrum ist also ein richtiges Kompetenzzentrum für demokratische Kultur geworden. Auch die Schulen der Stadt Wunsiedel und darüber hinaus haben sich sensibilisiert und sich vielfach als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ zertifizieren lassen.
Ein Beleg dafür ist aber auch der Umgang mit Fremden: In Wunsiedel wurde jetzt ein neues Haus für Flüchtlinge gebaut. Im Vorfeld wurde das Einvernehmen der Nachbarschaft eingeholt: Und es gab keinen Widerspruch! Die Architekten haben gesagt, so haben sie es noch nie erlebt.
Unsere Region hat sich deutlich entwickelt – hin zu mehr politischer Aufgeschlossenheit, Toleranz und pfiffigem Engagement. Das ist sicher nicht das, was Sie zuerst mit dem peripheren ländlichen Raum assoziieren … Und das meine ich mit diesem Paradox: Wir sind durch die uns aufgenötigte Auseinandersetzung mit den Braunen politisch gewachsen.
Aber so wichtig im politischen Raum die energische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ist – in der politischen Bildungspraxis brauchen wir größtmögliche Freiheit! Aktuell habe ich große Bedenken, dass wir unter der kämpferischen Überschrift „Haltung zeigen“ aufgefordert werden, politische Diskurse, die uns nicht in den Kram passen, abzuwürgen. Seit 30 Jahren arbeite ich in der Bildungsarbeit im ländlichen Fichtelgebirge.
Und ich bin sehr froh, hier nicht nur mit bildungsbürgerlichen Gruppen zu tun zu haben. Ich darf täglich mit Menschen arbeiten, die wir ansonsten eher nicht mit den Angeboten der politischen Bildung erreichen. Das heißt für mich aber auch, die Leute zunächst einmal so zu respektieren, wie sie sind. Nicht wenige dieser oft sehr freundlichen und engagierten Leute vertreten aber rechtspopulistische Meinungen. Dann bleibt es mir wichtig, dass sie sich überhaupt trauen, in der Gruppe auch solche Meinungen vertreten zu können, die dem Seminarleiter und dem Gruppenkonsens erkennbar widersprechen. Erst damit setzen sie sich ja auch den kritischen Nachfragen aus, müssen ihre Überzeugungen in der Diskussion vertreten und vielleicht dann auch korrigieren. Emanzipatorische Bildungsarbeit braucht diese Schritte und darf nicht von vornherein nur einen Gesinnungskorridor zulassen.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.
Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat