Wir müssen reden!
Wie kann der Freien Szene jetzt geholfen werden?
Die zurückliegenden Wochen sind geprägt von dramatischen Entwicklungen, die Europa und die Welt so in den letzten Jahrzehnten nicht zu bewältigen hatte. Die fast vollständige Stilllegung des öffentlichen Lebens in Deutschland und weiten Teilen Europas bedeutet eine gewaltige Zäsur für die gesamte Gesellschaft. Die Künste sind ein unverzichtbarer Teil dieser Gesellschaft. In allen Sparten – unabhängig davon, ob institutionell oder frei – ist der Shutdown eine unmittelbar spürbare Bedrohung der Existenz. Die Freie Szene ist besonders hart getroffen, weil die Akteurinnen und Akteure nicht durch eine Institution aufgefangen werden und es ihnen auch im „normalen Betrieb“ nur eingeschränkt möglich ist, nennenswerte Rücklagen zu bilden.
Die Bundes- und Landespolitik hat in den ersten Tagen der Krise beeindruckend schnell reagiert. Jetzt, einige Wochen später, ergibt sich ein differenzierteres Lagebild und die anfängliche Zuversicht vieler Kunstschaffender ist einer großen Verunsicherung gewichen. Das hat einerseits mit einer grundsätzlichen Sorge zu tun, dass die in den Künsten gewachsenen Strukturen im Zuge einer neuen gesellschaftlichen Prioritätensetzung perspektivisch unwiederbringlich verloren gehen. Die Verunsicherung hat andererseits mit den Hilfsmaßnahmen selbst zu tun, mit ihrer Umsetzung und mit zahlreichen Regelungslücken.
In der Diskussion, die im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages am 22. April 2020 geführt worden ist, gibt es durchaus positive Signale. Es deutet sich die Bereitschaft an, Soloselbständigen, Freiberuflerinnen und Freiberuflern zu ermöglichen, im Rahmen der Soforthilfe von Bund und Ländern persönliche Lebenshaltungskosten geltend zu machen – nach dem Modell Baden-Württembergs. Das ist eine zentrale Forderung der Allianz der Freien Künste mit ihren 18 Mitgliedsverbänden aus dem Bereich der Freien Szene. Darüber hinaus wichtig war die Feststellung im Ausschuss, dass die Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse (KSK) bei der Gewährung von individuellen Hilfen für Kunstschaffende – wie sie der Freistaat Bayern jüngst auf den Weg gebracht hat – nur ein Kriterium unter mehreren sein kann, da dadurch viele soloselbständige Kunstschaffende leer ausgehen, die nicht Mitglied in der KSK sein können.
Gleichzeitig offenbarten sich in der Ausschuss-Diskussion nach wie vor gravierende Missverständnisse über die Position der Freien Szene sowie die Konsequenzen, die sich bei der praktischen Umsetzung der Hilfsmaßnahmen für die Kunstschaffenden ergeben.
Die Rückmeldungen der Freien Szene zum Sozialschutzpaket gründen weder auf emotionalen Vorbehalten gegenüber dem SGB II, noch geht es um eine Sonderrolle der Künste. Das von uns ausdrücklich empfohlene Modell in Baden-Württemberg ist keine Sonderlösung für die Kunstschaffenden, sondern gilt für alle Freiberuflerinnen, Freiberufler und Soloselbständigen.
Dass die vereinfachte Grundsicherung für einzelne Akteurinnen und Akteure eine hilfreiche Überbrückung darstellen kann, lässt sich nicht bestreiten. Aber für die Mehrheit der freiberuflichen und soloselbständigen Kunstschaffenden ist die Grundsicherung nicht das passende Instrument zur Existenzsicherung. Dafür gibt es handfeste Gründe.
In der Grundsicherung wird die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit und Eigenständigkeit der freiberuflichen Kunstschaffenden stark eingeschränkt und reglementiert, denn trotz der durch Corona bedingten Vereinfachungen sind die umfassenden Rechenschaftspflichten über persönliche und betriebliche Vorgänge keineswegs außer Kraft gesetzt. Ja, die Vermögensprüfung ist ausgesetzt, und es gibt auf den ersten Blick großzügige Freigrenzen beim Vermögen. Aber große Unsicherheit besteht nach wie vor darüber, was als Vermögen anzurechnen ist. Problematisch ist auch die Verrechnung von Einkommen. Kunstschaffende haben häufig eine stark schwankende Einkommenssituation. Honorare werden oft erst Wochen nach erbrachter Leistung bezahlt, Tantiemen in unregelmäßigen Abständen, Stipendien und Preisgelder nach schwer planbaren Juryentscheidungen. Bei allen Zahlungseingängen, die sich auf früher erbrachte Leistungen beziehen, gilt das Zuflussprinzip, wonach die Einkünfte mit der Grundsicherung zu verrechnen sind.
Hinzu kommt eine große Rechtsunsicherheit in den Jobcentern. Hier gibt es in der Praxis eine regional sehr unterschiedliche Auslegung der Verwaltungsvorschriften. Diese ungeklärten Detailfragen und die uneinheitliche Handhabung sorgen für eine große Unsicherheit bei den Künstlerinnen und Künstlern, das hat nachhaltige Auswirkungen auf ihre unternehmerische Praxis.
Ein weiterer Punkt ist der bürokratische Aufwand. Es macht wenig Sinn, in eine längere Diskussion über die Frage zu verfallen, wie viele Seiten ein Antrag auf Grundsicherung umfasst. Allerdings sind es deutlich mehr als fünf, und es kommen eine Reihe von Anlagen hinzu sowie eine nach wie vor umfassende Offenlegungspflicht zu Konten und Vermögensverhältnissen – auch des Partners oder der Partnerin in der sogenannten Bedarfsgemeinschaft. An dieser Stelle wird die Kompensation unverschuldeter, krisenbedingter Honorareinbußen aus künstlerischer Tätigkeit quasi privatisiert. All diese Einwände, die sich im Detail auch weiter konkretisieren und belegen lassen, machen deutlich, dass es sich bei der Grundsicherung keinesfalls um ein einfaches, schnelles und unbürokratisches Verfahren handelt.
Mit Blick auf die aktuelle Situation bleibt der Ruf nach einer bundesweit einheitlichen Anpassung der Soforthilfe des Bundes – orientiert am Baden-Württemberg-Modell – auf der Agenda. Hier darf der Ball nicht zulasten der Freischaffenden und Soloselbständigen zwischen Bund und Ländern hin und her gespielt werden.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer dringender Forderungen. Bei vom Bund geförderten Kulturprojekten braucht es eine zusätzliche krisenbedingte Anpassung der Förderrichtlinien, z. B. eine Aussetzung der Premierenpflicht, die Möglichkeit, in bereits geförderten Projekten Ausfallhonorare zu zahlen, zusätzliche Kosten von Projektverschiebungen geltend zu machen, Projekte in das kommende Wirtschaftsjahr zu verschieben etc.
Klar ist, dass die Krise bis weit in das kommende Jahr reichen wird. Im Hinblick auf die bereits jetzt drohenden finanziellen Engpässe bei der kommunalen Versorgung braucht es darüber hinaus eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen zur langfristigen Sicherung der kulturellen Infrastruktur, beispielsweise durch einen Kulturinfrastrukturfonds, wie ihn der Deutsche Kulturrat in die Diskussion bringt.
In Zeiten sich häufender Positionspapiere, Petitionen und offener Briefe empfehlen wir dringend einen großen Runden Tisch der Kultur für einen offenen und direkten Austausch der Politik mit allen wichtigen Interessenvertretungen, Netzwerken und Stakeholdern und natürlich der Vertretungen von Bund, Ländern und Kommunen – auch zu der Frage, wie eine schrittweise Öffnung des Kulturbetriebs organisiert werden kann. Wir müssen reden!
Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.
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