Sebastian Nordmann & Sandra Winzer - 26. Februar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Vorerst geschlossen


Uns fehlt das Publikum im Saal – das menschliche Gefühl, das Miteinander

Sandra Winzer spricht mit Intendant Sebastian Nordmann über neue digitale Formate, den Zauber von Live-Aufführungen, das Projekt #Freiraum und Solidarität in der Kunstszene, 200 Jahre Konzerthaus Berlin und anderes mehr.

 

Sandra Winzer: Herr Nordmann, „Vorerst geschlossen“ – diese beiden Wörter liest man zuerst, wenn man den Online-Auftritt des Konzerthauses Berlin aufruft. Wie geht es Ihnen damit? Beschreiben Sie bitte die aktuelle Situation in Corona-Zeiten.

Sebastian Nordmann: „Vorerst geschlossen“, so wie wir es online schreiben, ist eigentlich zu kurz gefasst. Aktuell sind wir für Publikumsverkehr geschlossen. Digital findet ja unheimlich viel im Haus statt. Wir produzieren Streams, arbeiten an digitalen Formaten wie Rundgängen oder Mitmachprogrammen für Kinder. Konzertstreamings sind wichtig, auch, um international Zuschauerinnen und Zuschauer erreichen zu können. Aber: Uns fehlt das Publikum im Saal – das menschliche Gefühl, das Miteinander. Der Applaus oder auch Ruhemomente zwischen zwei Noten, in denen das ganze Publikum den Atem anhält. Das schmerzt und wir werden kämpfen müssen, all das nach Corona zurückzuholen.

 

Die Atmosphäre im Saal kann man digital nicht ersetzen. Dennoch ist in den vergangenen Monaten viel Neues entstanden. Zu welchen (digitalen) Alternativen hat Sie die Pandemie bewegt?

Schon im März 2020, mit dem ersten Lockdown, haben wir alle Stühle ausgebaut und Künstlerinnen und Künstler im Großen Saal musizieren lassen. Musik vor dem „leeren Saal“, quasi als Sinnbild. Das war eine Art Initialkonzert mit einer starken Bildsprache. Digitale Kulturformate, die auch langfristig funktionieren, müssen aber noch weitergedacht werden. Gerade, wenn sie Gefühle transportieren sollen. Mit unserem digitalen Online-Angebot „#konzertZUhaus“ haben wir unterschiedliche Formate gebündelt: Vermittlung für Kinder, Führungen durchs Haus, Playlists usw. Entscheidend dabei ist: Wir  leiden nicht nur – wir erfinden uns neu.

 

Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt ist ein prachtvoller Bau mit eigener Ausstrahlung. Spielt auch das eine Rolle für Sie beim Thema „Präsenzkonzert vs. Online“? Rezipieren die Menschen anders?

Unbedingt. Jeder, der schon mal zu Hause 45 Minuten lang eine Symphonie am Rechner gehört hat, merkt, dass man ständig abgelenkt ist. Handyklingeln, Essen, Kühlschrank, ein Kind kommt rein … das ist etwas anderes, als wenn man konzentriert mit vielen im Saal sitzt. Das beginnt mit dem Gemurmel im Saal am Anfang des Konzerts. Es folgt das Einspielen des Orchesters. Abläufe, die Menschen helfen, runterzufahren und den Alltag auszuschalten. In der schnellen Zeit, in der wir leben, ist ein Konzerthausbesuch immer auch ein „Nur-auf-die-Musik-Konzentrieren“. Alles andere wird ausgeblendet. Das ist, finde ich, am Rechner fast nicht möglich.

 

Sind die digitalen Formate demnach nur Ersatz für das analoge Konzert? Oder können Sie sich vorstellen, sie weiterzuführen?

Unbedingt weiterführen. Die Pandemie ist ein starker Katalysator in Bezug auf die Digitalisierung. Dass wir digitale Streaming- und Vermittlungsangebote umsetzen müssen, wussten wir schon länger. Sie aber in einer solchen Geschwindigkeit, binnen eines Jahres, auf die Beine zu stellen und zu finanzieren – das hatten wir nicht erwartet. Jedes Online-Konzert braucht außerdem einen visuellen Mehrwert. Das kann nicht nur eine Kamera mit einer Totalen sein. Man braucht eine Regisseurin, einen Schnitt, einen Tonmeister. Ein hoher Anspruch, den man binnen kürzester Zeit zur Perfektion treiben musste, damit die Konzertbesucherinnen und -besucher treu bleiben.

Ich glaube, dass uns dieser digitale Antrieb guttut. Wir werden weiterhin ein Konzerthaus mit 650 analogen Veranstaltungen im Jahr sein. Zusätzlich aber werden wir digital streamen und eigene Formate entwickeln, die es im Analogen nicht gibt. Es geht nicht um digitale Kopien von analogen Konzerten, sondern um eigene Ideen.

 

Das Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt für neue Ideen zu öffnen, dafür stehen Sie schon länger. Sie haben die „Mittendrin-Konzerte“ ins Leben gerufen, bei denen das Publikum zwischen den Musikerinnen und Musikern sitzt. Auch das Virtuelle Konzerthaus. Jetzt folgte ein neuer Vorschlag: Sie möchten nach dem Lockdown das Konzerthaus der Freien Szene für eine geraume Zeit zur Verfügung zu stellen: „Freie Räume für Freie Szene“. Das ist ein ungewöhnlicher Schritt – was hat Sie zu diesem Vorschlag bewegt?

Wir alle haben miterlebt, wie schwer freie Musikerinnen und Musiker durch die Krise kommen. Wir fühlen und leiden mit. Das Konzerthaus Berlin ist als Institution einigermaßen abgesichert.

Wir fühlen uns verantwortlich für die Musikerinnen und Musiker, die wir sonst engagieren: Solisten, Ensembles, Orchester, Chöre … ihnen wollen wir die Hand reichen. Durch #FREIRAUM können die finanziellen Einbußen der Krise zwar nicht ersetzt werden. Wir wollen aber ein Zeichen der Solidarität setzen.

Deswegen stellen wir den Raum zur Verfügung. Sämtliche Konzerteinnahmen gehen an die Ausführenden.

 

Ist das Angebot noch aktuell? Damals haben Sie ja sicher noch nicht mit der Länge des aktuellen Lockdowns gerechnet …

Unser Angebot gilt nach wie vor. Ursprünglich sollten die Konzerte im Februar/März stattfinden. Durch den verlängerten Lockdown haben wir sie in den Juni verlegt. Die letzten Termine werden gerade vergeben. Wir waren von der Resonanz überwältigt. Mehr als 500 Bewerbungen sind eingegangen. Das ist toll, es zeigt, dass das Projekt den richtigen Nerv trifft und dass die Hilfe wirklich gebraucht wird. Die Berliner Szene ist unglaublich vielfältig. Jeder Antrag war großartig, am liebsten hätten wir noch mehr Musikerinnen und Musikern Konzerte zur Verfügung gestellt. Wir hoffen sehr, dass die Konzerte dann im Juni wieder analog mit Publikum stattfinden können.

 

Höre ich da raus – eine freie, lebendige Szene ist keine Konkurrenz zu großen Spielstätten wie Ihrer, sondern Ergänzung der Kulturszene? Durch das Projekt befürworten Sie ja quasi eine Verschmelzung der beiden Sphären.

Mit der Freien Szene kooperieren wir schon seit vielen Jahren. 300 Veranstaltungen sind nicht durch unser Orchester, sondern durch Veranstalterinnen, Musiker, Ensembles gefüllt. Mit dem Projekt #FREIRAUM wollen wir vor allem auch politisch ein Zeichen setzen. Häuser, die können, sollten Ausfallhonorare zahlen oder Räume zur Verfügung stellen. Uns hat das unser Schirmherr, der Kultursenator Klaus Lederer, bewilligt und möglich gemacht.

Sollte der Lockdown aufgehoben werden – wie kurzfristig könnten Sie ein Programm auf die Beine stellen? Wären Sie bereit für den Neustart?

Ja. Wir überarbeiten permanent unser Hygienekonzept. Wie viele Musikerinnen und Musiker dürfen auf der Bühne sein? Welchen Abstand müssen sie haben? Darf gesungen werden? Wie werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getestet? Wie gelingt Publikumsverkehr? All das diskutieren wir kontinuierlich. Das Ziel muss immer sein: Wenn wir öffnen dürfen, wollen wir auch wirklich öffnen können. Aktuell peilen wir Mitte April an, nach Ostern. Darauf arbeiten wir hin.

 

Jetzt ist auch in diesem Jahr die Jubiläums-Saison dran unter dem Motto: „Alles bleibt anders“ … Was bedeutet das?

„Alles bleibt anders“ lautete das Motto für das Jubiläum. Zum damaligen Zeitpunkt war es nicht auf Corona bezogen. Jetzt aber passt es natürlich perfekt. Wir wollen zum Ausdruck bringen, dass eine Jubiläums-Saison auch ein Blick nach vorne sein sollte. Wir feiern nicht nur 200 Jahre Rückblick, sondern bleiben in Bewegung. Nun konnten wir viele Kompositionsauftragswerke nicht spielen. Die holen wir 2021/2022 nach und verlängern die Jubiläums-Saison. Wir möchten vielen Musikerinnen, Komponisten, Ensembles die Chance geben, ihre Werke, die sie für das Jubiläum geplant haben, auch aufzuführen.

 

Online sprechen Sie davon, auch die bewegte Geschichte des Hauses zu inszenieren, sprich: Bomben, Feuer, Wiederaufbau etc. Werden Sie auch die Corona-Pandemie durch eine Inszenierung aufgreifen?

Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Digital ja, daran arbeiten wir gerade. Mehr kann ich noch nicht verraten. In unserer 200-jährigen Geschichte wird das Jahr der Pandemie aber eine ganz besondere Rolle spielen. Alles bleibt anders. Wir hoffen z. B., dass wir im Mai den Freischütz gemeinsam mit arte aufnehmen können, haben außerdem ein Open Air und eine Gala organisiert. Florian Illies wird einen Text zur 200-jährigen Geschichte vorlesen. Wir haben viel vor und hoffen, dass das auch alles stattfinden kann. Die Krise wird dabei definitiv sichtbar werden – auch digital soll man sehen, was passiert ist in dieser Zeit.

 

Ende des Sommers 2019 ist bekannt geworden, dass Ihr Vertrag bis 2024 verlängert wird. Als dann die Pandemie so heftig einschlug – gab es Momente, in denen Sie diesen Schritt bereut haben?

Nein, ganz ehrlich – daran habe nie gedacht. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren an Bord. Vielmehr habe ich Dankbarkeit empfunden, dass ich das Haus und das Orchester durch all die gemeinsamen Jahre so gut kenne und nun durch die Krise hindurchsteuern kann. Ein persönlicher Neuanfang in der Krise wäre viel schwieriger gewesen, weil man die Bedingungen eines fremden Hauses nicht kennt. So aber konnten wir schnell handeln. Eine Task-Force bilden, aus Orchester, Personalrat, Leitung. So ist uns auch schnell der Umstieg ins Digitale geglückt. Bei all der Unruhe in Bezug auf die Finanzen bleibe ich als langjähriger Intendant vielleicht auch gelassener. Die Vertragsverlängerung hat mich insofern eher positiv beeinflusst.

 

Was hat das Konzerthaus in Corona-Zeiten finanziell getragen – sind es die Abonnenten?

Ja, auf jeden Fall. Die Abonnenten hatten ja schon ihr Abonnement bezahlt. Fast 90 Prozent haben ihr Abo in Gutscheine umgewandelt und wollten ihr Geld nicht zurück haben. Das war eine riesige Hilfe. Aber auch das Land Berlin hat uns unheimlich unterstützt und unsere Schulden, die wir im letzten Jahr gemacht haben, ausgeglichen. Das hat Entlastung geschaffen. Ansonsten wären wir mit einem riesigen Rucksack losmarschiert, hätten sparen müssen und Dinge nicht umsetzen können. Jetzt aber können wir nach der Krise quasi bei null starten, ohne Millionen-Minus im Rücken.

 

Herr Nordmann, wenn Sie sich einen idealen weiteren Verlauf wünschen könnten. Wie ginge es weiter mit dem Konzerthaus Berlin?

Ich wünsche mir, dass wir unser Stammpublikum halten. Dass das Vertrauen in große Veranstaltungen und den großen Musiksaal nicht verloren geht. Die Lust auf klassische Musik soll die Angst, in einen Saal zurückzukehren, überwinden. Ich wünsche mir gleichzeitig, dass wir durch die neuen digitalen Formate auch ein neues Publikum gefunden haben. Und dass sie auf analoge Konzerte Lust machen. Unser Haus ist kein Elfenbeinturm für ein paar wenige. Wir stehen für jeden offen und bieten viele spannende Konzertformate. Ich wünsche mir außerdem sehr, dass wir in der Kultur weiterhin Brücken bilden – auch zwischen Staaten. Das betrifft insbesondere das Touring. Tourneen haben durch ihren Umwelteinfluss einen negativen Touch bekommen. Gleichzeitig ist der Austausch zwischen Kulturnationen unglaublich wichtig. Trotzdem befürworte ich aber natürlich, dass man hier runterfahren und die Umwelt im Blick behalten muss. Wir müssen vernünftig mit unseren Ressourcen umgehen.
Und zum Schluss wünsche ich mir, dass nach Corona kein Verdrängungswettbewerb entsteht, à la „nur der Stärkere gewinnt“. Die kulturelle Vielfalt in Deutschland ist großartig, in vielen Orten gibt es Konzerthäuser, Opern, Theater. Wir dürfen nicht den Fehler machen, bei der Kultur als Erstes zu sparen. Es darf nicht passieren, dass am Ende nur noch Konzerthäuser in drei großen deutschen Städten stehen und unter Tourismusfaktoren abgerechnet wird. Vielfalt muss aus dem Wunsch heraus erhalten bleiben, dass Bildung und Kultur wichtig sind.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/corona-vs-kultur/vorerst-geschlossen/