Mara Michel - 28. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Kultur.Gut


Mode reflektiert und visualisiert Zeitgeist

Sie kommuniziert ihrem Gegenüber – so wie die Kunst, Musik und Literatur – Denken, Fühlen und Haltung der Träger und wie sie gesehen sein wollen. In unserem Land derzeit mehrheitlich uniformiert, korrekt, unauffällig, beliebig bis hinein in die Politik. Eben nicht als Kultur.Gut.

 

Dabei stehen die ca. 40.000 Kreativschaffenden der Branche am Anfang einer komplexen Wertschöpfungskette, die als Wirtschaftsfaktor einen Umsatz von mehr als 35 Milliarden Euro pro Jahr generiert und über 135.000 Beschäftigte zählt. Hinzu kommen 65 Milliarden Euro Umsatz und Hunderttausende Arbeitsplätze im stationären und Online-Einzelhandel.

 

So wie getragene Mode gesellschaftliche Haltungen und Einstellungen kommuniziert, spiegelt sie mit ihrem wirtschaftlichen Verhalten unsere sozialpolitische Gesellschaft: Sie hat seit Jahrzehnten ein besinnungsloses Hamsterrad losgetreten, das sich immer schneller drehte und drohte, sich ungebremst zu überschlagen mit den einwöchig wechselnden Billigangeboten an den Endkunden. Masse statt Klasse.

 

Jetzt hat Corona alle Player der Wertschöpfungskette in der Mode- und Textilbranche kalt erwischt: die Designer, Firmen, Industrie, Messeveranstalter, Produzenten, Transporteure, den Handel und Einzelhandel sowie am Ende der Kette den kaufenden Kunden.

 

Ein Virus hat mitten im getriebenen Sein weltweit abrupt die Bremse gezogen und kopfüber stürzt die Branche in ein tiefes Loch und wirkt paralysiert.

 

Es sind nicht die acht Wochen Auszeit, die eine Starre auslösen: Es ist ein ganzes Jahr, das versinkt und die Branche in ein prekäres Aus fallen lässt. Alle Beteiligten in der Wertschöpfungskette sind davon getroffen und betroffen.

 

Die Designer zuallererst. Sie werden entlassen, weil ihre Arbeit nicht gebraucht wird, da alle Messen gestoppt sind und keine Order generiert werden kann. Als Freelancer bekommen sie keine Aufträge mehr. Fatal, da die freischaffenden Mode- und Textil-Designerinnen und -Designer bei uns ohnehin nicht als Partner auf Augenhöhe gesehen werden, nicht als kompetente Berater – eher als emotional betonte Spinner, für abstruse Unterhaltungssendungen missbraucht und oft als nicht ernst zu nehmende Exoten vorgeführt. Diejenigen, die in Firmen eingebunden sind, müssen Masse produzieren, die – nicht verkauft – am Ende einer Saison tonnenweise verbrannt wird. Zeit zum Nachdenken und Zeit für den Wandel.

 

Zwei Jahre im Voraus bedienen die Kreativen mit ihrem Wissen und Können die Farben- und Garnbranche, ein Jahr im Voraus die Materialien- und die Modefirmen. Was sie entwerfen und als Prozess begleiten, wird in Prototyp-Kollektionen umgesetzt, auf Messen gezeigt, dort von Einkäufern geordert, danach in der ganzen Welt produziert, um von dort als fertige Textilien wieder zurückgebracht zu werden. Erst jetzt wird der Handel bedient und kann der Endkunde einkaufen.

 

Das Zusammenbrechen und Unterbrechen der Kette, die bisher mit maßloser Gier einem “Mehr, Schneller, Besser, Größer” nachjagte, führt durch Corona zu einer erzwungenen Stille.

 

Die Chance und Zeit für: schnelleres Verstehen der Notwendigkeiten, Mut finden für neues Denken, um den Wandel herbeizuführen – nachhaltiger, langsamer, individueller, rücksichtsvoller, empathischer, zusammenhaltend. Das ist die andere Seite der Pandemie.

 

Schon lange keimen neue Gedanken und die Sehnsucht nach mehr Zeit, nach Entschleunigung, nach Spiritualität, nach Individuellem, nach Wertigkeit, nach weniger Erlebnis-Hecheln, Urlaubs-Flüchten, Abgerufensein, Omni­präsentsein – eben nach gesellschaftlichem Zusammenhalt, mehr Ruhe, Besinnung und Haltung, ohne Alltagshektik und Getriebensein.

 

Jetzt ist Entschleunigung nicht mehr nur ein sehnsüchtig gebrauchtes Wort und eine Jahrhundertaufgabe für ein neues nachhaltiges Verhalten, sondern ein aufgezwungener Fakt infolge der Pandemie. Die Endkunden machen es vor. Natürlich hatte der Einzelhandel gehofft, nach Wiedereröffnung einen Ansturm an Kunden zu bekommen – es ist nicht passiert. Die Home-Zeit hat andere Prioritäten gesetzt. Familie ist wichtiger, Zeit zum Nachdenken hat Besinnung auf das Wesentliche erzeugt. Alle haben aufgeräumt. Auch im Kleiderschrank. Noch ein Teil? – Nein!

 

Der Einzelhandel muss den fehlenden Umsatz mit neuen Wegen ausgleichen. Mehr mit dem einzelnen Kunden kommunizieren. Digital und analog. Mehr Mode zulassen und anbieten. Natürlich haben die Firmen gehofft, dass der Einzelhandel Orderware nicht storniert. Es passiert jedoch – ein Jahresverlust für die Industrie, die längst die produzierte Ware im Lager hat. Wer keine Rücklagen hat und keine Unterstützungsprogramme nutzen kann, stirbt jetzt.

 

Wie gehen wir in unserem Berufsverband VDMD mit der Pandemie um? Der erste und laufende Schritt war und ist Informationen über Unterstützungsprogramme des Bundes und der Länder zu vermitteln und beim Ausfüllen derselben zu helfen. Der zweite Schritt ist die Lobbyarbeit in Politik, Industrie und Medien. Wir arbeiten daran, als Beratende von der Branche abgeholt zu werden. Die Firmen sollen vom Bund finanziell unterstützt werden, wenn sie unsere Kompetenz abholen. Beratung auch für kleine Firmen bezahlbar machen. Das ist das Ziel. Der dritte Schritt würde sich als Folge einstellen: Kreativschaffende erfahren Wertschätzung, Augenhöhe und adäquates Honorar. Homeoffice wird ein von Vertrauen getragenes Arbeitsmodell. Unsere Umwelt wird bewusster wahrgenommen und es wird liebevoll mit ihr umgegangen. Die Gier nach Mehr weicht einem bewusst nachhaltigen Konsum. Das Über- und Gegeneinanderschlagen von Jahres-Messe-Terminen wird entzerrt und neu geregelt. Online und analog. Weltweit denken wir die Spiralen unseres Handelns vor und beziehen Sozio-Kultur-Denken und -Handeln ein.

 

Mode wird Kultur.Gut.

 

Ich bin und bleibe Optimist: Ja, wir lernen aus der Pandemie.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.


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