Christoph Strupp - 1. November 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

100 Jahre Radio

Zwischen Fiktion und Realität


"Krieg der Welten" von Orson Welles

Als sich in der Zwischenkriegszeit das Radio als neues Medium etablierte, entwickelten sich mit ihm eine neue Kunstform – das Hörspiel – und ein neues Nachrichtenformat – die Live-Reportage –. Hörspiele hoben sich von Lesungen oder Theateraufführungen dadurch ab, dass sie Texte, Musik und Geräuscheffekte kombinierten und damit die Fantasie des Publikums anregten, dies aber auf der Ebene des Akustischen verblieb: Bilder entstanden im Kopf der Zuhörenden. Live-Reportagen und eingeschobene Sondermeldungen ermöglichten zudem seit den frühen 1930er Jahren bei Ereignissen im In- und Ausland eine Aktualität und ein „Dabeisein“, das Zeitungen oder die Wochenschauen der Kinos nicht bieten konnten. Da die Programme zumeist live ausgestrahlt und nicht aufgezeichnet wurden, gingen nicht viele „Sternstunden“ des frühen Radios dauerhaft in die Mediengeschichte ein.

 

Zu den bekanntesten Ausnahmen gehört die Hörspielfassung des Science-Fiction-Romans „Krieg der Welten“, die am Abend des 30. Oktober 1938 in New York bei CBS live über den Sender ging. Diese Sendung wurde nicht nur zum Mythos, weil sie die Geschichte von einer Invasion der Marsmenschen in einer höchst originellen Inszenierung präsentierte, sondern auch, weil sie in den USA angeblich Millionen Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Neuere Forschungen haben Letzteres relativiert, aber die „Massenpanik“ war von Anfang an ein eigener Teil der Geschichte vom „Krieg der Welten“.

 

Der Mann hinter dem spektakulären Hörspiel war der Schauspieler und Regisseur Orson Welles, einer der bedeutendsten Film- und Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts. Seit dem Sommer 1938 gestaltete Welles mit Schauspielern des New Yorker „Mercury Theatre“ an den Sonntagabenden für CBS Hörspiel-Adaptionen literarischer Klassiker. Am 30. Oktober 1938, kurz vor Halloween, stand nun die 1898 veröffentlichte Satire des britischen Autors H. G. Wells auf dem Programm. Dabei geht es um eine Invasion von bösartigen Marsmenschen in England, deren Kampfmaschinen das Militär nichts entgegensetzen kann und die erst durch die Anfälligkeit der Außerirdischen für Krankheitserreger besiegt werden. Orson Welles wies zu Beginn seiner Sendung zwar darauf hin, dass es sich bei dem Folgenden um eine Dramatisierung dieser Geschichte handele und sie in die nahe Zukunft verlegt worden sei. Allerdings erwähnte er nicht, dass der Autor Howard Koch daraus eine fiktive Live-Reportage über die Landung von Marsmenschen an der US-Ostküste gemacht und damit beide neuen Formate des Radios kombiniert hatte.

 

So hörten rund sechs Millionen Amerikaner zunächst einen Ansager, der die Übertragung von Tanzmusik aus New York ankündigte. Wenig später wurde das Programm unterbrochen, und ein anderer Sprecher berichtete über Gasexplosionen auf dem Mars, die ein Astronom vom Princeton Observatorium in New Jersey angeblich beobachtet hatte. Kurz darauf schaltete man nach Princeton, sprach mit dem Professor und begab sich zum Schauplatz eines Meteoriteneinschlags im nahen Grover’s Mill. Der Meteorit erwies sich als Raumschiff, das sich vor den Augen des Reporters öffnete und den Blick auf ein Wesen mit glühenden Augen und tentakelartigen Gliedmaßen freigab. Als die Männer sich ihm näherten, gingen von dem Raumschiff Hitzestrahlen aus, die alle Anwesenden in der Umgebung töteten. Auch die Artillerie der Nationalgarde erwies sich als wirkungslos und von 7.000 Soldaten, die das Raumschiff angriffen, überlebten nur 120. Später landeten Raumschiffe überall in Amerika und setzten tödliche Strahlen ein. New York City war von schwarzem Rauch eingehüllt, und die Menschen rannten durch die Straßen und sprangen in Panik in den East River.

 

In Wirklichkeit war natürlich nichts davon geschehen. Welles und seine Theaterkollegen hatten sämtliche handelnden Personen live gesprochen und mit reportagetypischen Text- und Soundelementen gearbeitet. Zusammen wirkte dies alles beklemmend realistisch. Zwar wurde während der Sendung noch einige Male kurz auf den fiktiven Charakter des Beschriebenen hingewiesen, aber dies nahmen angesichts der Hektik der „Sondersendung“ offensichtlich nicht alle wahr. Das galt insbesondere dann, wenn sie das Programm nicht von Anfang an und konzentriert zuhörend verfolgt, sondern ihr Radio als „Hintergrundgeräusch“ eingeschaltet hatten. Ein solches Verhalten war in den 1930er Jahren durchaus schon üblich.

 

Heute geht die Forschung aber davon aus, dass „Krieg der Welten“ bei Weitem nicht die Panik auslöste, die große US-amerikanische Tageszeitungen mit sensationsheischenden Überschriften am nächsten Tag beschrieben. Schließlich standen den sechs Millionen CBS-Hörern rund 30 Millionen bei der Konkurrenz von NBC gegenüber. Zwar gingen bei Polizei und Feuerwehr tatsächlich Notrufe ein, aber Unsicherheit und Ängste waren nicht weitverbreitet und hielten vor allem nicht lange an. Die Empörung über Welles und die CBS und die Rufe nach einer strikten staatlichen Kontrolle des kommerziellen Rundfunks ebbten bald wieder ab. Der Sender sagte zu, das Stilmittel „fiktiver“ Nachrichten nicht mehr zu verwenden.

 

Dass das Hörspiel überhaupt Menschen in Panik versetzte, hing über die clevere Machart hinaus mit den Zeitumständen zusammen: Die angespannte weltpolitische Lage in Europa und Fernost hatte die Amerikanerinnen und Amerikaner für den aggressiven Charakter der faschistischen Staaten sensibilisiert. So vermuteten manche am Abend des 30. Oktober hinter den Marsmenschen eine deutsche oder japanische Invasion. Zugleich hatten sich in den zeitgenössischen Krisen die Radiosender mit ihrer aktuellen Berichterstattung als seriöse und vertrauenswürdige Nachrichtenquelle etabliert.

 

Diese Autorität nutzte Orson Welles und stellte sie zugleich mit seinem Hörspiel infrage – ein künstlerisch legitimer, aber aus heutiger Sicht im Zeitalter behaupteter oder tatsächlicher „Fake News“ gesellschaftspolitisch problematischer Ansatz. Tageszeitungen ergriffen damals die Chance, einen Konkurrenten zu diskreditieren, boten allerdings mit ihren hastig geschriebenen Artikeln über eine Massenpanik, die auf aufgebauschten Einzelfällen und Anekdoten beruhte und die relativ geringe Hörerzahl bei CBS außer Acht ließ, selbst kein Vorbild für seriöse Berichterstattung. So fasziniert „Krieg der Welten“ bis heute durch die brillante Nutzung der Möglichkeiten des noch jungen Radios, ist aber zugleich auch ein Lehrstück über die Verantwortung von Medien gegenüber ihrem Publikum.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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