Konrad Dussel - 1. November 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

100 Jahre Radio

Von der Entstehung bis zur Gegenwart


Zur Geschichte des Radios in Deutschland

Mediale Stille. Kein Internet, kein Fernsehen, keine Klänge aus dem Radio. In diese Situation muss man sich zurückdenken, wenn man nur einigermaßen nachvollziehen will, was es in Deutschland bedeutete, seit 1923/24 auf einmal fast überall mithilfe kleiner Apparate – und zunächst nur mit Kopfhörern – zu Hause Stimmen und Musik zu vernehmen, die an ganz anderer Stelle erklangen – in Berlin oder München und später auch in London oder Moskau. Die Technik machte nämlich schnell große Fortschritte und die Nachfrage nach dem neuen medialen Angebot war riesig, obwohl seine Kosten beträchtlich waren. Allein zwei Reichsmark im Monat für die Erlaubnis, Radio hören zu dürfen, waren damals eine Menge Geld. Die meisten Zeitungsabonnements waren viel billiger.

 

Die Intendanten der neu gegründeten, von privatem Kapital finanzierten, aber von der Reichspost streng kontrollierten regionalen Rundfunkgesellschaften hatten eine Mission: Sie betrachteten ihr Medium primär als Kulturträger und neues Bildungsangebot. Gewichtige Vorträge und klassische Musik standen deshalb im Zentrum ihrer grundsätzlich live ausgestrahlten Programme, denn Speichermöglichkeiten gab es kaum. Sie hatten deshalb auch kein Problem damit, dass die labile Republik politische Sendungen strengstens kontrollierte und Nachrichten fast ganz quasi staatlich produziert wurden. Schwieriger war es für sie, auf die Forderungen der Hörerschaft einzugehen – mehr Unterhaltendes zu bringen, aktuelle Schlager und vor allem Tanzmusik. Ein Grundkonflikt zeichnete sich da ab, der im Grunde die deutsche Radiogeschichte bis heute prägt.

 

Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 bedeutete für das deutsche Radio einen tiefen Einschnitt. In kürzester Zeit wurde die Organisation ganz auf den Staat ausgerichtet, das Personal durch Entlassung jüdischer sowie aller von der neuen politischen Linie abweichenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neu ausgerichtet und die Programme mit viel Politik durchsetzt. Die Folgen blieben dem zuständigen Propagandaministerium und seinem zwar fanatischen, aber nicht dummen Leiter Joseph Goebbels nicht lange verborgen. Das Angebot des eindimensional vom Sender auf die Empfänger gerichteten Mediums konnte zwar strikt kontrolliert, sein Empfang aber nur begrenzt verordnet werden. Zwar gab es immer wieder Ansätze zum Gemeinschaftsempfang, aber letztlich erfolgte der Großteil des Radiokonsums ganz privat zu Hause.

 

Das Problem fand seine Zuspitzung während des Zweiten Weltkriegs. Es war zwar einfach, das Hören von „Feindsendern“ wie der BBC, Radio Moskau oder selbst dem schweizerischen Radio Beromünster zu verbieten, jedoch war die Kontrolle dieses Verbots schwierig. Zwar wurde dem System durch Denunziation viel verbotenes Hören zugetragen und die Strafen fielen zum Teil sehr drastisch aus, aber wichtiger als die Abschreckung wurde die Anpassung des eigenen Angebots an zentrale Publikumswünsche. Wichtigste Zielgruppe war dabei die Masse der Soldaten, junger Männer, die ganz überwiegend vor allem flotte Unterhaltungsmusik hören wollten und keine politische Propaganda. Das früh ausgesprochene Jazz-Verbot hatte so schnell nur vordergründig Bestand. Entsprechendes wurde durchaus gesendet, allerdings nicht unter diesem Namen. Das speziell dazu gegründete Deutsche Tanz- und Unterhaltungsorchester hatte Einschlägiges auf immer wieder verwertbaren Schallplatten einzuspielen. Goebbels Rezept war recht einfach: viel massenwirksame Unterhaltung, vor allem mit aktueller leichter Musik, und vergleichsweise wenig politische Information, die aber streng kontrolliert.

 

Als der Krieg zu Ende war, musste auch das Radio neu organisiert werden. In der Sowjetischen Besatzungszone und der daran anschließenden DDR war es selbstverständlich, dem sowjetischen Vorbild zu folgen. Die staatliche Lenkung wurde beibehalten, nur die Inhalte den neuen ideologischen Vorgaben angepasst. In den westlichen Besatzungszonen war die Lage schwieriger. Jede Form von Staatsrundfunk sollte vermieden werden. Die nationalsozialistische Vergangenheit war zu präsent und zudem wollte man sich auch von der neuen Konkurrenz im Osten abgrenzen. Im wirtschaftlich am Boden liegenden Land einen neuen Privatfunk aufzubauen, war aussichtslos. Wofür hätte geworben werden, woher hätten die nötigen Werbeeinnahmen kommen sollen? Als Alternative bot sich das in Großbritannien bewährte System eines öffentlich-rechtlichen Programmanbieters an. In deutscher Modifikation einigte man sich auf den Aufbau mehrerer regionaler Rundfunkanstalten, in denen nicht die Länderregierungen, sondern komplex zusammengesetzte Gremien, Rundfunkräte genannt, die zentralen Entscheidungen zu treffen hatten.

Der frühe westdeutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk hatte den Mangel zu verwalten, nicht nur in ökonomischer, sondern auch in technischer Hinsicht. Seit Radio überhaupt gesendet wurde, geschah dies analog auf der Mittelwelle. Doch da waren die Frequenzen begrenzt. Jede Anstalt hatte grundsätzlich nur eine Frequenz, mit der sie haushalten musste. Für viel Konkurrenz war da schon rein technisch kein Platz. In den 1950er Jahren begann zwar UKW als Alternative zur Verfügung zu stehen. Aber es dauerte Jahre, bis entsprechende Empfangsgeräte nicht nur breitflächig in den Haushalten vorhanden waren, sondern auch entsprechend genutzt wurden. Und zudem trat das Radio zunehmend in den Schatten des Fernsehens, das in Deutschland wie selbstverständlich von Anfang an ebenfalls öffentlich-rechtlich organisiert wurde. Die Gründe lagen nahe: Es gab die mit der Funktechnik bestens vertrauten Hörfunkanstalten und wie beim frühen Radio, so waren auch beim frühen Fernsehen die Frequenzen knapp. An Konkurrenz war auch da nur begrenzt zu denken. Und als sich erste Möglichkeiten der Programmerweiterung abzeichneten, wurde der von Bundeskanzler Adenauer favorisierten Alternative einer Mischung aus Privat- und Staatsfunk als zweites Fernsehprogramm vom Bundesverfassungsgericht eine deutliche Absage erteilt.

 

In den 1960er und 1970er Jahren war das westdeutsche Radio darum bemüht, sich durch tiefgreifende Programmreformen seinen Platz neben dem immer dominanteren Fernsehen zu sichern. Das gelang zwar ziemlich gut, aber das Leitmedium Fernsehen bestimmte trotzdem die weitere Entwicklung. In den 1970er Jahren zeichneten sich ganz neue Übertragungswege für Fernseh- wie Radioangebote ab. Über Kabel und Satelliten konnten immer mehr Programme empfangbar gemacht werden. Und plötzlich galt es nicht nur, das nationale Rundfunkangebot zu organisieren, sondern auch die internationale Konkurrenz im Auge zu behalten. Das schon seit den 1930er Jahren betriebene Radio Luxemburg, nun zu RTL weiterentwickelt, entwickelte sich nicht nur zur großen Herausforderung für die deutsche Rundfunkpolitik, sondern für die ganz Westeuropas, einschließlich der damals noch existenten DDR. Nach langen innenpolitischen Auseinandersetzungen wurde in der Bundesrepublik schließlich Mitte der 1980er Jahre auf Staatsvertragsbasis eine duale Rundfunkordnung etabliert: ein komplex organisiertes Nebeneinander von primär durch Gebühren – mittlerweile Beiträge genannt – finanzierten öffentlich-rechtlichen Anstalten und rein von Werbeeinnahmen abhängigen privaten Anbietern, die aber ihrerseits durch öffentlich-rechtliche Landesmedienanstalten zugelassen und kontrolliert werden.

 

In seinen Grundzügen gilt dieses System, das nach dem Zusammenbruch der DDR auch in die neuen Bundesländer übertragen wurde, bis heute. Allerdings gerät es durch die technischen Entwicklungen seit der Jahrtausendwende immer mehr unter Druck. Digitalisierung und Internet stellen für traditionelles Radio – aber auch Fernsehen – größte Herausforderungen dar. Längst handelt es sich nämlich nicht nur darum, dass da auch ein neuer Übertragungsweg nutzbar ist, der mehr Angebot ermöglicht. Die Strukturen von Angebot und Nutzung ändern sich grundlegend. Mit verhältnismäßig geringem Aufwand kann mittlerweile einerseits Webradio angeboten werden. Und andererseits sind die an Audioangeboten Interessierten längst nicht nur auf linearen, von traditionellen Radioproduzenten angebotenen Programmkonsum angewiesen. Gerade im Musikbereich gewinnen Streamingdienste immer größere Bedeutung. Nebenbei bemerkt, bedeutet dies auch den Niedergang älterer Speichermedien wie CDs, von LPs ganz zu schweigen.

 

Vor diesem Hintergrund wird die Zukunft des klassischen Radios je nach Aspekt ganz unterschiedlich zu beurteilen sein. Sicherlich: Die Masse des Angebots wird immer größer werden. Die Nutzungsmuster erweisen sich jedoch als relativ stabil. Das ganz traditionelle Radio mit seiner Mischung aus Musik und Information hat da ein breites Publikum. Und die öffentlich-rechtlichen Anbieter haben aufgrund der staatlich regulierten Beitragsfinanzierung ein solides Fundament. Sie brauchen auf Musik spezialisierte reine Streamingdienste nicht zu fürchten. Schwieriger wird es für die Privatfunkanbieter werden, denn die werden immer mehr ihre wichtigsten Kunden verlieren – nicht die Hörer, sondern die Werbetreibenden. Noch härter wird dies allerdings das Privatfernsehen treffen, dessen Kosten ja viel höher sind. Aber das ist ein ganz anderes Thema

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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