Roberto Sala - 1. November 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

100 Jahre Radio

Im Kreuzfeuer internationaler Propaganda?


Die ARD und die „Gastarbeitersendungen"

Als Anfang der 1960er Jahre der Kalte Krieg seine Hochphase erreichte, gehörte das Radio zu dessen schärfsten Waffen. Eine Vielzahl von Auslandssendern strahlte über Kurzwellen Programme in den verschiedensten Sprachen aus, um die Vorzüge der „freien Welt“ oder des Sozialismus zu propagieren. So gut wie jedes Land auf der einen oder der anderen Seite des Eisernen Vorhanges war an diesem „Ätherkrieg“ beteiligt, die Bundesrepublik mit der „Deutschen Welle und dem „Deutschlandfunk“.

 

Die entflammende Propaganda zwischen West und Ost rief mitunter bizarre Ereignisse hervor. Während des Baus der Berliner Mauer stellten die bundesrepublikanischen Behörden fest, dass etliche italienische „Gastarbeiter“ überlegten, nach Italien zurückzukehren. „Radio Prag“, der Auslandssender der damaligen Tschechoslowakei, hatte über sein italienischsprachiges Programm gemeldet, die Bundesrepublik werde die Grenzen schließen. Die Sendung war unter den Arbeitsmigranten beliebt, weil sie gute Musik ausstrahlte. Die Sendungen aus Italien waren nicht zu empfangen. Bald sendeten einige der bundesrepublikanischen Rundfunkanstalten täglich kurze Sendungen in italienischer Sprache, um den Migranten die „richtige Sicht“ der Dinge zu erläutern. In den darauffolgenden Jahren wuchs der politische Druck auf die ARD-Anstalten, die Sendungen auszuweiten, nicht nur für Italiener, sondern für sämtliche wichtige Gruppen der „Gastarbeiter“. Die westdeutschen Behörden wie auch die Regierungen in den Herkunftsländern fürchteten, dass die Migranten der „Ostpropaganda“ zum Opfer fallen könnten. Obwohl die ARD Ausländer nicht als eigenes Zielpublikum betrachtete, führte sie 1964 bundesweite Radiosendungen in italienischer, türkischer, griechischer, spanischer und serbokroatischer Sprache ein, täglich eine Dreiviertelstunde pro Sprachgruppe.

 

Entstanden als Gegengewicht gegen die „Ostpropaganda“, sahen sich die fremdsprachigen Radioprogramme der ARD-Anstalten bald mit der Anschuldigung konfrontiert, ein Bollwerk kommunistischer Tendenzen zu sein. Die griechischen Redakteure, die im Bayerischen Rundfunk die griechischsprachigen Programme für sämtliche ARD-Anstalten produzierten, reagierten mit Empörung, als 1967 die Militärjunta die Macht in Griechenland übernahm. Sie positionierten sich in der Sendung mit deutlichen Worten gegen das neue Regime. Ihr Engagement steckte bald die spanischen Kollegen an, die nun ebenfalls die falangistische Diktatur mit leidenschaftlichen Redebeiträgen hinterfragten.

 

Für die Regierungen in den Herkunftsländern war dies inakzeptabel. Sie beklagten sich mit Vehemenz über die „kommunistisch gefärbten“ Radioprogramme der ARD und setzten die Bundesrepublik unter massiven diplomatischen Druck. Spanien drohte beispielsweise damit, die DDR offiziell anzuerkennen, Griechenland stoppte Aufträge in Millionenhöhe an deutsche Firmen. Die Bundesregierung geriet in eine schwierige Lage. Auf der einen Seite standen wirtschaftliche und geopolitische Interessen, auf der anderen die demokratischen Grundwerte und die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die Beamten schienen die internationalen Interessen höher zu gewichten und betrachteten die Grundprinzipien der jungen Demokratie als einen Luxus, den man sich gegenüber „Gastarbeitern“ nicht leisten konnte. Das Auswärtige Amt drängte den Bayerischen Rundfunk dazu, die kritischen Töne in den spanischen und griechischen Sendungen einzustellen. Dagegen wehrte sich der langjährige BR-Sendeleiter und Leiter des Ausländerprogramms Gerhard Bogner. Sein Vater wurde von den Nationalsozialisten verfolgt, sodass Bogner es für seine Pflicht hielt, sich für demokratische Werte einzusetzen und die Kritik gegenüber den autoritären Regimes in den „Gastarbeitersendungen“ zu ermöglichen. Der politische Druck wurde so groß, dass 1972 Bogner von der Leitung des Ausländerprogramms entbunden wurde. Die betroffenen griechischen und spanischen Journalisten konnten zwar die Sendungen weiter produzieren, wurden aber strenger kontrolliert. Einige Jahre später kehrte die Demokratie in den südeuropäischen Ländern zurück und womöglich hatten die „Gastarbeitersendungen“ dazu beigetragen, diesen Prozess zu beschleunigen.

 

Trotz der heftigen politischen Konflikte, die im Übrigen auch das italienische und türkische Programm trafen, entwickelten sich die fremdsprachigen Radioprogramme der ARD zu „normalen“ Radiosendungen und wurden zu einer wichtigen Begleitung für die „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik. In Teilen gibt es sie heute noch, wie die 1961 gegründete Sendung »Radio Colonia« vom WDR. Das fremdsprachige Radioangebot der ARD spielte für viele Migrantinnen und Migranten eine wichtige Rolle, bis es in den 1990er Jahren nach der Verbreitung des Satellitenfernsehens weitgehend an Bedeutung verlor. Die Sendungen dienten aber auch lange danach als ein Alibi, das Regelprogramm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – insbesondere das Fernsehprogramm – nicht auf eine durch Migration geprägte Gesellschaft anzupassen. Trotz einiger wichtiger Fortschritte bleiben ARD und ZDF noch heute nicht selten am Ideal einer stereotypisierten „deutschen Kultur“ gebunden. Finden sie für Lebenswelten von Menschen verschiedener Herkunft und familiärer Geschichten Platz, ordnen sie ihnen häufig eine Sonderstellung zu – man denke an „Türkisch für Anfänger“. Obwohl sie keinen öffentlichen Auftrag haben, bilden die Privatsender die Heterogenität unserer Gesellschaft viel besser ab, denn sie müssen sich aus kommerziellen Gründen zum echten Publikum verhalten. So ist es fast selbstverständlich, dass in Serien von RTL und ProSieben Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, aber nicht stark stereotypisiert werden, eine Rolle spielen. Währenddessen laufen im öffentlichen-rechtlichen Programm noch das „Musikantenstadl“ und der „Bergdoktor“. Die Schwierigkeiten von ARD und ZDF, ein junges Publikum zu erreichen, haben auch damit zu tun, denn die neuen Generationen entsprechen immer weniger dem „typisch deutschen“ Zuschauer, der noch in den Köpfen mancher Programmverantwortlicher stecken geblieben ist.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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