Karl Karst - 1. November 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

100 Jahre Radio

Das Kulturradio


Zur Bedeutung und Geschichte in Deutschland

Die Wurzeln der heutigen „Kulturradios“ der ARD liegen in den sogenannten „Dritten Programmen“, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den späteren 1950er Jahren nach dem Vorbild von BBC 3 aus der Taufe hob. Man nannte sie „gehobene“ Programme und benutzte sie anfänglich als Experimentierflächen, die zunächst nur stundenweise auf Sendung gingen.

 

Nach einem 14-tägigen Probebetrieb im Dezember 1956 wurde WDR 3 – das ich am besten kenne – ab dem 12. Januar 1957 regelmäßig gesendet, allerdings zunächst nur am Wochenende. Erst vier Jahre später, 1961, kam ein dritter Tag hinzu, der Freitag. Von da an hieß es „Das Dritte Programm“ und führte schon in dieser Frühphase zu heterogenen Reaktionen: „Unser III. Programm“, schrieb WDR-Hörfunkdirektor Fritz Brühl 1961, soll „ein Ärgernis sein für alle, die dem Klischee verhaftet sind, aber auch eine Hilfe für alle, die sich gern zu neuen Ufern vorwagen“. WDR 3 war ein „Kontrastprogramm“, ein „Programm für Anspruchsvolle“.

 

Mit diesem Auftrag, ein „Programm für Anspruchsvolle“ zu sein, lässt sich per se nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung erreichen. Das war damals schon so und das gilt noch heute. WDR 3 startete sein tägliches Programm am 29. März 1964 mit der Sendung des „Rosenkavaliers“ von Hugo von Hofmannsthal! Knapp zwölf Jahre später, 1976, erreichte WDR 3 laut WDR-Jahresbericht eine Reichweite von 2 bis 3 Prozent. Wesentlich mehr seien bei dieser Ausrichtung „aber weder möglich noch unbedingt erwünscht“, hieß es damals.

 

Kulturradio als Vermittler

 

Die Entwicklung der Kulturprogramme der ARD ist in den vergangenen 20 Jahren in fast allen Sendern gleich verlaufen: Aus ursprünglich wenig aktuellen, oft „bodenfernen“ und mehrheitlich fachspezifischen Programmangeboten für wechselnde Zielgruppen mit geringer Zugänglichkeit für die Allgemeinbevölkerung, sind heute tagesaktuelle Kulturradios geworden, die mit regionaler Berichterstattung und kulturpolitischen Beiträgen direkten Bezug auf das kulturelle und politische Leben in ihren Sendegebieten nehmen. Sie haben für all diejenigen, die in und mit der Kultur leben oder sich für sie interessieren einen direkten Lebensbezug und mitunter sogar existenzielle Bedeutung. Ohne sie würde sowohl der Kulturlandschaft als auch den Kulturinteressierten nachweisbar etwas fehlen.

 

Die föderale Struktur der ARD hat es möglich gemacht, dass die Kulturprogramme der ARD spezifische Berichterstattungsformen über die kulturellen Aktivitäten ihrer Sendegebiete entwickeln konnten. Eine solche regionale Nähe der Kulturberichterstattung ist durch ein nationales Kulturprogramm zweifelsfrei nicht zu erreichen. Das weiß die Politik und das weiß auch die Programmdirektion des Deutschlandfunks. Hier gilt es, auf Dauer effiziente Formen der Abstimmung zwischen landesbezogener und nationaler Berichterstattung zu finden und sich gegenseitig zu ergänzen, ohne die einzigartige und von den Bürgerinnen und Bürgern gewünschte regionale Berichterstattung zu gefährden.

 

Die föderale Struktur der Kulturprogramme hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Identität der Kulturschaffenden und der Kultureinrichtungen in ihren Ländern gestärkt wurde. Das lässt sich zumindest in NRW deutlich erkennen. Was keinem Feuilleton der Presse und bislang auch keinem Onlineangebot gelungen ist, konnte durch die Vernetzungskraft der im Jahr 2000 gegründeten „WDR 3 Kulturpartnerschaften“ erreicht werden. Das Landeskulturradio hat das Selbstwertgefühl der Landeskultur gefestigt, indem es sich als Kulturplattform etabliert und in den Dienst der Kultur gestellt hat.

 

Kulturradio als Vernetzer

 

Die Kulturpartnerschaften von WDR 3 wären ohne ein neues Verständnis von Partnerschaft nicht denkbar gewesen. Dafür bedurfte es der Aufhebung überkommener Radio-Theoreme: Rundfunk nicht mehr nur als einkanalige lineare Ausstrahlung und Verlautbarung einer Zentralredaktion an viele, sondern – fast im vielzitierten Sinne Brechts – als wechselseitige, mehrkanalige Interaktion.

 

Allerdings durfte diese Interaktion nicht zur Beeinträchtigung der Unabhängigkeit beider Instanzen führen. Beiderseitige Souveränität war und ist der Garant für die Qualität der Kulturpartnerschaften. Bei der Gründung der WDR 3 Kulturpartnerschaften habe ich deshalb sehr früh festgehalten: „Es kann durchaus vorkommen, dass wir eine Veranstaltung, auf die wir in unseren Spots hingewiesen haben, in einer Rezension stark kritisieren“. Und der damalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen noch schärfer: „Partnerschaft bedeutet für den WDR nicht Propaganda, sondern erhöhte  Aufmerksamkeit … Wenn es notwendig ist, werden Veranstaltungen von WDR 3 Kulturpartnern auch kräftig verrissen“.

 

Heute sind landesbezogene „Kulturpartnerschaften“ nahezu ein Standard bei den Kulturradios der ARD. Fast alle deutschen Kulturradios haben den Begriff „Kulturpartner“ übernommen und sind Beziehungen mit diversen Kultureinrichtungen ihres Sendegebiets eingegangen. Kein anderes Medium, so habe ich immer für dieses Prinzip geworben, erreicht das Publikum der Kulturinteressierten breiter und zugleich zielgenauer als das Kulturradio. Es ist im besten Falle ein landesweites Feuilleton und wird diese Funktion umso mehr einnehmen, je weniger Presse und Netz die regionale Kultur in den Fokus nehmen.

 

Kulturradio als Produzent

 

Neben ihrer Funktion als Kulturvermittler (Berichterstattung) und als Kulturvernetzer (Partnerschaft) haben die Kulturradios der ARD eine erhebliche Bedeutung als Kulturträger ihrer Länder. Je nach Größe ihrer Etats produzieren sie ein enormes Quantum an anspruchsvollen Musik- und Wortsendungen.

 

In NRW ist die Kulturabteilung des WDR der größte Auftraggeber für die Kulturwirtschaft des Landes. Gleichzeitig ist der WDR der aktivste Konzertveranstalter in NRW. Addiert man die Konzertmitschnitte des Kulturradios WDR 3 und die Eigenkonzerte der WDR Klangkörper, deren Sendeplattform das Kulturradio ist, kommen 250 bis 300 Konzertausstrahlungen jährlich zusammen. Originalmitschnitte wohlgemerkt! Keine Konserven oder CD-Produktionen!

 

Noch singulärer ist die Leistung der Kulturradios im Bereich des anspruchsvollen Worts, z. B. der Hörspiel- und der Feature-Produktionen. Hier gibt es kein Äquivalent auf dem deutschen Markt. Zwar hat die Zahl der Eigenproduktionen der Hörbuch-Verlage zugenommen, aber die Mehrheit der anspruchsvollen Hörspielproduktionen und vor allem der dokumentarischen Feature-Produktionen stammt nach wie vor aus den Studios der ARD.

 

Diese Produzentenrolle steht in direkter Abhängigkeit von der Etatausstattung der Landesrundfunkanstalten. Je stärker die Gebührenschraube angezogen wird, desto geringer werden die Mittel, die nach Abzug der nicht beeinflussbaren Kosten für Programm und Produktion übrig bleiben. Stagniert das Gesamtbudget, reduzieren sich bei steigenden Fixkosten automatisch die flexiblen Programmmittel. Und damit auch die Angebote für die Kultur.

 

Kulturradio und Kulturpolitik

 

Der Begriff „Kulturradio“ war noch nicht als Markenname gebräuchlich, als ich 1999 das „Kulturereignis“ WDR 3 zu leiten begann. Im Gegenteil: Es gab erhebliche Berührungsängste vieler Kolleginnen und Kollegen, die ihr Programm nicht auf „Kultur“ reduzieren lassen wollten. Zu Recht! Wir haben in WDR 3 intensive Diskussionen über den Kulturbegriff geführt und immer wieder über die notwendige Ausweitung des Kulturbegriffs debattiert: Selbstverständlich ist Politik ein wesentlicher Bestandteil der Kultur. Und umgekehrt sollte Kultur ein zentraler Bestandteil der Politik sein! Aber auf beiden Seiten fehlt(e) es deutlich an „Integration“.

 

2003 haben wir für WDR 3 erstmals einen ausführlichen Leitfaden für das Programm entwickelt. Darin hieß es unter anderem:

 

  • WDR 3 reflektiert das Zeitgeschehen aus der Sicht der Kultur.
  • WDR 3 spiegelt das kulturelle Leben in Nordrhein-Westfalen.
  • WDR 3 ist Mitgestalter des kulturellen Lebens in Nordrhein-Westfalen.

 

Im gleichen Jahr entstand das „Kulturpolitische Forum WDR 3“, eine Kooperation des Landessenders mit seinen Kulturpartnern. Die Kulturpartner stellen die Veranstaltungsorte, WDR 3 liefert Moderation und Technik. Anfänglich wurden zwölf Foren pro Jahr veranstaltet. Später wurden es über 40 jährlich. Bis heute sind insgesamt mehr als 700 kulturpolitische Diskussionssendungen entstanden.

 

Kulturradiofunktionen heute

 

Das „Kulturradio“ ist heute eine feste Marke in Deutschland, ebenso wie die „Kulturpartnerschaften“. Zusätzlich gehört es zu den wesentlichen Merkmalen heutiger Kulturradios, große Flächen für die Kulturberichterstattung bereitzuhalten und hochqualitative Eigenproduktionen herzustellen und auszustrahlen. Insofern können wir aktuell drei grundlegende Funktionen der ARD-Kulturradios in Deutschland festhalten:

 

  • Die Funktion als Kulturvermittler durch regionale und nationale Berichterstattung,
  • die Funktion als Kulturträger durch Produktion und Koproduktion anspruchsvoller Musik- und Wortsendungen und
  • die Funktion als Kulturvernetzer durch Herstellung von Partnerschaften und Bereitstellung von Plattformen für die Kultureinrichtungen der jeweiligen Länder.

 

Wenn es dem Kulturradio gelingt, diese Funktionen sinngerecht zu erhalten, wird es ihm auch in Zukunft nicht an Unterstützung und Zuspruch fehlen. Voraussetzung dafür ist die Öffnung und Nutzung aller Ausspielwege in der linearen und der non-linearen Medienwelt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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