24. Juni 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturpolitischer Wochenreport

KW 25: Skandal mit Ansage - Antisemitismus bei der Documenta fifteen


Sehr geehrte Damen und Herren,

 

es hätte doch so schön sein können: eine documenta fifteen ohne jeden Antisemitismus. Eine documenta fifteen, die unter Beweis stellt, dass alle Warnungen, die im Vorfeld lautstark geäußert wurden, wahrgenommen wurden, sich mit ihnen auseinandergesetzt wurde und dass Antisemitismus bei der documenta fifteen tatsächlich keine Rolle spielt. Eine documenta fifteen mit spannender Kunst, die so in Deutschland bislang nicht zu sehen war. Eine documenta fifteen, die zu Debatten über Kunst, künstlerischen Ausdrucksformen und Positionen einlädt.

 

Doch so schön war und ist es nicht! Eigentlich ist es kaum zu fassen, monatelang wurde davor gewarnt, dass antisemitische Kunstwerke in Kassel gezeigt werden könnten. Monatelang wurde die Warnung ausgesprochen, dass die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Postkolonialismus die Erinnerung an die Shoah und vor allem den gegenwärtigen Antisemitismus nicht überdecken, verdrängen oder ablösen dürfen. Monatelang wurde der Dialog angeboten. Vergeblich.

 

Vergeblich auch die klaren Worte, die im Zusammenhang mit der Veranstaltungsreihe »We need to talk« gefunden wurden. Gerade diese Veranstaltungsreihe sollte die Gelegenheit bieten, sich mit dem Komplex Erinnerung an die Shoah, Antisemitismus heute und Bearbeitung von Kolonialismus und Postkolonialismus auseinanderzusetzen. Nachdem der Zentralrat der Juden moniert hatte, dass er in die Gespräche nicht eingebunden werden sollte, wurde dieser Fehler nicht korrigiert, sondern die Diskussionsreihe kurzerhand einfach abgesagt.

 

Dann zur Eröffnung die klaren Worte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er sagte unter anderem: »Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen. Mehr noch: Die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst sind Wesenskern unserer Verfassung. Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.« Und weiter: »Daher wende ich mich heute auch an die Geschäftsführung und an die Gesellschafter der documenta. Es gehört zum Prinzip dieser Weltkunstschau, dass jede Ausstellung unabhängig kuratiert wird. Das weiß ich. Und die enorme Bedeutung der documenta als das Forum der globalen Kunstgemeinde hat ganz sicher auch mit der großen künstlerischen Freiheit zu tun, die jede Kuratorin, jeder Kurator – oder wie in diesem Jahr das kuratierende Kollektiv – genießen. Aber: Die Verantwortung bleibt ja. Verantwortung lässt sich nicht outsourcen.«

Dann zwei Tage nach der Eröffnung der documenta fifteen der »Knaller«. An einem prominenten Platz wurde das großformatige Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieses Banner, das den Freiheitskampf gegen den indonesischen Diktatur Suharto zeigen soll, lebt unter anderem von antisemitischen Klischees. Gierige Juden, karikierend mit Schläfenlocken, blutunterlaufenen Augen und Hakennase dargestellt, gehören zu den Blutsaugern dieser Welt. Dieses Banner arbeitet mit einer Bildsprache, die an den »Stürmer« erinnert. Als wäre dies alles nicht schon schlimm genug, wird sich, als der Protest immer lauter wurde, lau entschuldigt, dass nicht die Gefühle anderer Menschen verletzt werden sollten. Geht es noch, möchte man dem Künstlerkollektiv Taring Padi zurufen. Es geht nicht um Verletzung von Gefühlen. Es geht auch nicht darum, dass das Banner bereits in anderen Ausstellungen unbeanstandet gezeigt wurde. Antisemitismus ist nicht hinnehmbar, egal ob er von einem indonesischen Künstlerkollektiv oder von Extremisten in Deutschland verbreitet wird. Beim Banner wird die Grenze der Kunstfreiheit überschritten, wie der Anwalt Peter Raue in der Süddeutschen Zeitung schreibt. Aus seiner Sicht wird »in Gänze und ohne Zweifel den [.. ] Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 StGB erfüllt« und deswegen kann sich nicht auf die »verfassungsrechtliche Garantie der Kunstfreiheit« berufen werden. Das Banner ist zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags nicht mehr in Kassel zu sehen. Es wurde zunächst verhängt und dann abgehängt.

 

Kulturstaatsministerin Claudia Roth reagierte gestern mit einem 5-Punkte-Plan, der unter anderem vorsieht:

  1. die lückenlose Aufklärung durch die documenta-Geschäftsführung und das Kuratoren-Kollektiv wie es überhaupt zur Ausstellung des o. g. antisemitischen Banners kommen konnte sowie die Sicherstellung, dass keine weiteren antisemitischen Werke zu sehen sind; dabei soll auch die Expertise des Zentralrats der Juden in Deutschland genutzt werden,
  2. die Klärung der Verantwortlichkeiten von documenta-Geschäftsführung, Kuratorinnen und Kuratoren sowie Aufsichtsratsvorsitzenden und weiteren Gremienmitgliedern; dazu gehört auch die Darlegung, ob die Verantwortlichkeiten in Codes of Conduct vereinbart und klar abgegrenzt waren,
  3. die zwingende Verbindung einer künftigen finanziellen Förderung der documenta durch den Bund an eine unmittelbare Einbindung in die Strukturen der documenta,
  4. die Durchführung einer grundlegenden Strukturreform der documenta,
  5. die Einbindung internationaler Expertise sowie der Pluralität der deutschen Gesellschaft in die Aufsicht der documenta; der Zentralrat der Juden wird hier als einzubindender Partner ausdrücklich erwähnt.

Der 5-Punkte-Plan von Kulturstaatsministerin Roth ist eine klare Ansage an die Gesellschafter und die Geschäftsführung der documenta, so wird es nicht weiter gehen. An einer documenta mit den bisherigen Strukturen wird sich der Bund nicht mehr finanziell beteiligen. Die Strukturreform ist in die Zukunft gerichtet. Aktuell, auch daran lässt der 5-Punkte-Plan von Roth keinen Zweifel, geht es darum, die Ausstellung zu sichten und zu durchforsten, ob noch andere antisemitische Arbeiten zu sehen sind.

 

Vermutlich wird in einigen Wochen die Aufregung um die documenta fifteen abebben. Neue Katastrophen werden die Zeitungsspalten, Nachrichten und social media-Kanäle fluten. Das darf aber nicht dazu führen, sich nicht mit dem Kernproblem der documenta fifteen auseinanderzusetzen. Die Findungskommission hatte sich bewusst für das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa entschieden. Künstler und Künstlerinnen, aber vor allem auch Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Globalen Süden sollten zu Wort kommen. Ruangrupa hat die documenta-Geschäftsführung und auch Öffentlichkeit über seine Arbeitsweise nicht im Dunkeln gelassen. Es wurde offen ausgesprochen, dass ihre Freunde dort ihre Arbeit zeigen sollten. In dem, Künstlerinnen und Künstler aus der Westbank eingeladen wurden, wurde ein klares Statement gemacht. Und dabei geht es nicht darum, ob ggfs. auch jüdische Künstlerinnen und Künstler ausstellen, die nicht in Israel leben. Es geht vielmehr um ein anti-zionistisches und anti-israelisches Statement. Dies alles war lange vor der Eröffnung der documenta fifteen bekannt. Wie dann, ohne die Werke vorher zu sichten, vollmundig von Seiten der documenta-Geschäftsführung zugesichert werden konnte, dass keine antisemitischen Werke zu sehen sein werden, bleibt schleierhaft. Zumindest zeugt es von erheblicher Naivität.

 

Das documenta-Desaster sollte Anlass zu einer selbstkritischen Diskussion im Kulturbetrieb sein, inwiefern latenter Antisemitismus oder zumindest Antizionismus zum Selbstverständnis von Teilen des Kulturbetriebs gehört. Immer öfter ist zu hören, dass doch genug an die Opfer der Shoah gedacht worden sein, jetzt seien endlich andere Opfergruppen dran. Vielen Unterstützern dieser These, scheint nicht klar zu sein, dass diese Haltung der Schlussstrichdebatte aus dem rechtsextremen Lager entspricht.

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die europäischen Staaten und vor allem die Kulturinstitutionen in Europa sich viel stärker als bislang üblich mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Essenziell ist weiter, sich mit dem zeitgenössischen künstlerischen Schaffen in anderen Weltregionen zu befassen, es – wie in der Vergangenheit bereits geschehen – auch bei Weltausstellungen wie der documenta zu präsentieren. Zur Kunst gehören der Streit und die Auseinandersetzung um gelungene oder misslungene Werke, um das, was gefällt und jenes, was missfällt. Weltausstellungen wie die documenta leben von diesem Diskurs – Beispiele hierzu gibt es in der Vergangenheit genug.

 

Antisemitismus hat allerdings in der Kunst keinen Platz. Antisemitismus ist keine Meinung, sondern diskreditiert Juden, weil sie Juden sind. Das ist nirgendwo hinnehmbar und im Kulturbereich schon gar nicht.

 

Ihr

 

Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
twitter.com/olaf_zimmermann

 

PS. Mit den folgenden Pressemitteilungen hat sich der Deutsche Kulturrat zur „documenta fifteen“ geäußert:

 

 


 

Neue Stellungnahmen des Deutschen Kulturrates

 

Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine. Die Ukraine ist ein unabhängiger europäischer Staat, der bereits seit mehreren Jahren von seinem Nachbarn Russland bedroht wird und seit 2014 im Krieg lebt. Dieser Krieg muss unverzüglich beendet werden. Es ist ein verbrecherischer Krieg gegen die Menschen in der Ukraine, gegen die Kultur und kulturelle Identität der Ukraine, die ausgelöscht werden sollen.

 

Lesen Sie hier weiter…

 

Die steigenden Energiekosten belasten öffentliche und öffentlich-geförderte Kultureinrichtungen und -institutionen erheblich. Für das kommende Jahr sind beträchtliche Steigerungen an Kosten für Strom und Wärme zu erwarten, nicht zuletzt aufgrund der steigenden Energiekosten auf dem Weltmarkt.

 

Lesen Sie hier weiter…

 


 

Vorankündigung: Neue Politik & Kultur Juli/August erscheint am Montag

 

Themen u.a.:

  • Gegen Rassismus und für Vielfalt
  • Documenta fifteen
  • Ukraine: Wie ist es derzeit um die ukrainische Kultur bestellt?
  • Architektur – Radikal normal
  • Novellierung des Medienstaatsvertrages

 

Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe u.a.:

  • Jens Balzer
  • Khalid Bounouar
  • Aladin El-Mafaalani
  • Nancy Faeser
  • Claudia Roth
  • Mithu Sanyal

 

Politik & Kultur ist die Zeitung des Deutschen Kulturrates. Sie wird herausgegeben von Olaf Zimmermann und Theo Geißler.

Sie erscheint zehnmal jährlich und ist erhältlich in Bahnhofsbuchhandlungen, an großen Kiosken, auf Flughäfen und im Abonnement.

 


 

Fachtagung „Frauen in Führung“ ausgebucht – Stream aber für alle zugänglich

 

Der Deutsche Kulturrat lädt am 27. und 28. Juni zur Fachtagung Frauen in Führung ein: Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Kreativwirtschaft beleuchten in Diskussionsrunden und Kurzvorträgen die Situation von Frauen im Arbeitsmarkt Kultur. Die Veranstaltung findet in der Villa Elisabeth in Berlin statt.

 

Hier finden Sie das Tagungsprogramm.

 

Da mit deutlich über 200 Anmeldungen die Tagung vollständig ausgebucht ist, können weitere Interessierte alle Programmpunkte im Live-Stream über den YouTube-Kanal des Deutschen Kulturrates verfolgt werden. Eine Anmeldung für den Stream ist nicht erforderlich.

 


 

Faire Vergütung bei öffentlicher Kulturförderung

 

Von der Kultur-MK wurde eine Kommission für faire Vergütung für selbstständige Künstlerinnen und Künstlern eingerichtet, die sich mit der Festlegung fairer spartenspezifischer Entgeltkorridore bei öffentlicher Kulturförderung befasst.

 

Am 22. 06.2022 hatten der Deutsche Kulturrat und die Kommission für faire Vergütung der Kultur-MK zu einem Experten- und Expertinnengespräch zu diesem Thema eingeladen.

 

Der Deutsche Musikrat, die Deutsche Jazzunion, die Deutsche Orchestervereinigung, FREO, Bundesverband Freie Darstellende Kunst, der BBK, ver.di, die GEDOK,m die GDBA und der Deutsche Tonkünstlerverband nahmen an dem Gespräch mit der Kommission teil.

 


 

Mit Zusammenhalt gegen Rassismus: Best-of der fünften Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration

 

Unter dem Titel „Zusammenhalt gegen Rassismus“ fand am 2. Juni die fünfte Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration in Berlin statt. Über 150 Gäste aus Politik, Kultur und Zivilgesellschaft folgten der Einladung, in Anwesenheit von Kulturstaatsministerin Claudia Roth mitzudiskutieren, sich auszutauschen und zu vernetzen.

 

 


 

Text der Woche: Eugen El „documenta fifteen. Über die Kunstfreiheit und ihre Grenzen“

 

Es war eine irritierende Erfahrung. Vor sechs Jahren zeigte Lawrence Abu Hamdan in der Frankfurter Kunsthalle „Portikus“ seine Installation „Ear­shot“. Darin ging es um zwei palästinensische Jugendliche, die laut Abu Hamdan von der israelischen Armee erschossen wurden  – und zwar, so will es der britisch-libanesische Künstler in seiner Untersuchung einer Tonaufzeichnung der Schüsse herausgefunden haben, illegalerweise mit scharfer Munition. Auf die Frage eines Journalisten antwortete Abu Hamdan damals, der israelischen Armee glaube er kein Wort. Der eigentlich weltläufig und eloquent wirkende Künstler erschien dabei verbissen und kühl.

 

Dieser Text ist am 27. Mai 2022 erschienen.

 

Eugen El ist Redakteur der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“.

 


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/presse/kulturpolitischer-wochenreport/25-kw-2022/