4. Juni 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturpolitischer Wochenreport

KW 22: Insekten als Kulturthema, Kultur braucht Inklusion, Mentoring-Programm für Frauen, JaAberUnd #4, ...


IkI-Jahrestagung, Text der Woche: J. H. Claussen zur problematische Tradition des Gedenkens

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

mein Großvater schenkte mir in meiner Kindheit einige alte Jahresbände des Kosmos, der berühmten „Handweiser für Naturfreunde“. In einem dieser Hefte aus dem Jahr 1918 fand ich den Aufsatz von Jean-Henri Fabre „Die Dolchwespe als Wundkünstler“. Wie schafft es die Wespe, ihr Opfer, eine Käferlarve, mit einem Stich zu lähmen, aber nicht zu töten? Denn nur wenn die Larve absolut bewegungsunfähig, aber nicht tot ist und deshalb nicht verwest, kann sich ihr Nachkommen von dem paralysierten Tier entwickeln. Dies ist letztlich nicht nur eine naturwissenschaftliche Frage, sondern auch eine philosophische. Ist die Larve nicht doch tot, oder lebt sie in einer Art tiefen Schlaf, der Metabolismus fast gegen null gefahren? Ist die Wespe bei ihrer Attacke auf ihr Opfer rein instinktgesteuert, oder hat sie einen eigenen Willen, kann sie lernen?

 

Wie kein anderer Entomologe vorher, klärte Jean-Henri Fabre bis dahin unklare Sachverhalte mit seinen exakten wissenschaftlichen Beschreibungen in höchster literarischer Brillanz. Der Kosmos-Verlag hatte Auszüge aus dem umfänglichen Werk von Fabre Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals ins Deutsche übersetzen lassen, die vollständige deutsche Übersetzung des zehnbändigen Hauptwerkes des Schriftstellers „Souvenirs Entomologiques“ wurde erst in den letzten Jahren in einer wundervollen Edition bei Matthes & Seitz vorgelegt.

 

Dieser Text war für mich der Beginn einer Leidenschaft für Insekten. Sechs Beine, Chitinpanzer, deutliche Einkerbungen zwischen Kopf, Brust und Hinterleib. Deshalb wurden die Tiere früher auch Kerbtiere genannt. Eine unglaubliche Vielfalt und Schönheit. Allein in Deutschland geht man von deutlich mehr als 30.000 unterschiedlichen Arten aus, keiner weiß, wie viele es auf der Welt sind, aber es können Millionen sein.

 

Mich haben immer die Arten besonders fasziniert, die wie die Dolchwespe ein aufwendiges Instinkt-Verhalten an den Tag legen. Trotz solch herausragender Entomologen, also Insektenkundler, wie Jean-Henri Fabre, wissen wir unglaublich wenig über das Leben der Insekten selbst in unserer nahen Umgebung und noch weniger über ihr Leben in fernen Ländern.

 

Der Mensch lebt in einem intensiven Spannungsverhältnis mit den Insekten. Deshalb hat der Mensch die Insekten immer auch in seinen kulturellen Ausdrucksformen behandelt. Schon aus dem Jungpaläolithikum vor 30.000 Jahren sind Insektendarstellungen bekannt. Das ist nicht verwunderlich, denn Insekten können ein Segen, aber auch ein Fluch für uns Menschen sein. Sie können ganze Ernten vernichten und damit schlimmste Hungersnöte auslösen, sie können Krankheiten wie die Pest verbreiten und sie können aber auch selbst Nahrungsmittel sein und, wie die Honigbienen, ein begehrtes Nahrungsmittel herstellen. Und ohne die gigantischen Bestäubungsleistungen vieler Insekten würde im wahrsten Sinne des Wortes auf unseren Bäumen und in unseren Gärten nichts wachsen. Und ohne die Insekten hätten viele Tiere, wie z. B. die Vögel, keine Nahrung. Wenn es ein Symbol gibt, das zeigt, dass in unserer Welt alles mit allem zusammenhängt, dann sind das die Insekten.

 

Doch sind die Insekten massiv bedroht, extensive Landwirtschaft, Bodenversiegelung durch Baumaßnahmen und auch Klimaänderungen lassen den Bestand dramatisch schrumpfen. Nicht wenige werden sagen, egal, weg mit den lästigen Biestern. Doch wer einmal ein Insekt unter der Lupe angeschaut hat, wird von der Schönheit dieser Tiere in den Bann gezogen sein. Farben und Formen im Überfluss.

 

Aber man kann die Schönheit oft nicht unmittelbar sehen, denn das Sehen muss gelernt werden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Deutsche Kulturrat haben schon vor drei Jahren gemeinsam festgestellt, dass Umwelt- und kulturelle Bildung eng miteinander verbunden sind: Die Umweltbildung mit ihrem Blick auf den verantwortlichen Umgang mit Ressourcen und die kulturelle Bildung mit ihrer Ergebnisoffenheit für neue Perspektiven und Lösungswege sind eine entscheidende Grundlage zum Verstehen, zum Sehen der Welt. Ohne kulturelle Bildung werden wir auch die Natur um uns herum nicht verstehen, nicht erkennen können. Und wir werden die für uns überlebensnotwendigen Insekten nur schützen, wenn wir auch ihre Schönheit wahrnehmen. Die Beschäftigung mit Insekten ist deshalb kein Spartenthema für Umweltschützer und Biologen, sondern ein eminent wichtiges kulturelles Thema.

 

Endlich kann ich wieder Insekten beobachten. Der lange Berliner Winter ist zu Ende. Zuerst kamen die Bienen, die Waldameisen und einige frühe Schmetterlinge wieder aus ihren Winterquartieren hervor, kurz danach auch die Wespen und Käfer. Schon nach wenigen warmen Tagen ist das Gewimmel fast unübersehbar. Man muss sich konzentrieren, man muss auswählen, um etwas erkennen zu können. Ich habe mich auf Grab-, Weg- und Goldwespen spezialisiert, beobachte und fotografiere sie. Nicht weil die anderen Insektengruppen weniger interessant wären, sondern nur um in der Fülle den Überblick einigermaßen behalten zu können. Dann aber eröffnet sich eine faszinierende Welt direkt vor der eigenen Haustüre, selbst in der Großstadt.

 

Mich beschäftigt besonders das Verhältnis zwischen Kultur und Natur bereits seit Jahrzehnten. Im Herbst 1987 veranstaltete ich in meiner damaligen Kölner Galerie eine Gruppenausstellung: „Die Welt der Insekten“. 22 junge Künstlerinnen und Künstler zeigten damals ihren künstlerischen Zugang zur Welt der Insekten. Heinrich Wolf, der Wegwespenspezialist schlechthin, sprach bei der Finissage der Ausstellung über Insekten in der Kunst, der Literatur und der Musik und warum ein Entomologe immer auch einen künstlerischen Blick braucht. Einige Insektenkundler, wie z. B. der Schweizer Goldwespenforscher Walter Linsenmaier, waren von ihren Untersuchungsobjekten so fasziniert, dass sie ihnen in ihren Habitus-Zeichnungen auch künstlerische Denkmale setzten.

 

Im Schwerpunkt in der neuen Politik & Kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates, wird die kulturelle Welt der Insekten beleuchtet. Nach den Schwerpunkten: „Vom Grenzstreifen zum Kulturerbe“ (6/2020), „Am Rande der Nacht“ (12/2019-1/2020), „Der Kultur-Öko-Test“ (1/2018) und „Das Anthropozän“ (3/2016) ist dieser Schwerpunkt bereits der fünfte in Politik & Kultur an der Schnittstelle von Kultur und Natur. Jetzt kann man, so glaube ich, schon von einer kleinen Serie sprechen.

 

Ihr

 

Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
Twitter: olaf_zimmermann

 


 

Themendossier: Insekten & Kultur

 

Sechs Beine, Chitinpanzer, deutliche Einkerbungen zwischen Kopf, Brust und Hinterleib – das sind die Charakteristika von Insekten. Der Mensch lebt mit ihnen in einem intensiven Spannungsverhältnis. Deshalb hat der Mensch die Insekten immer auch in seinen kulturellen Ausdrucksformen behandelt. Schon aus dem Jungpaläolithikum vor 30.000 Jahren sind Insektendarstellungen bekannt. In diesem Themendossier wird die kulturelle Welt der Insekten beleuchtet.

 

 

Hier können Sie das Themendossier: Insekten & Kultur mit den Abbildungen als pdf-Datei laden.

 

AUSGEWÄHLTE INSEKTENSAMMLUNGEN

 

Museum Natur und Mensch Freiburg
Die Entomologische Sammlung beherbergt ca. 1.700 Insektenkästen: farbenprächtige Schmetterlinge vom Kaiserstuhl, schillernde und bizarre Käfer, filigrane Libellen dicht nebeneinander. Ein großer Teil der Sammlung ist während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Hugo Ficke und Konrad Guenther an das Haus übertragen worden. Homepage

 

Museum für Naturkunde Berlin
Seitdem das Museum für Naturkunde seine erste große Insektensammlung im Jahr 1818 erhielt, sind die Sammlungen auf über 6 Millionen Käfer, 4 Millionen Schmetterlinge, 5 Millionen Bienen und Wespen und eine Vielzahl weiterer Insekten angewachsen. Homepage

 

Naturkunde-Museum Bamberg
Vorhanden sind knapp 120.000 Belege, verteilt auf alle Insektenordnungen. Am bedeutendsten ist die Sammlung von Theodor Schneid (1879-1958). Schneid besammelte zwischen 1930 bis ca. 1950 in einem Umkreis von ca. 30 km um Bamberg. Vor allem die Hautflügler hat er an zahlreichen Standorten gründlich erfasst. Homepage

 

Naturkundemuseum Karlsruhe
Die Gesamtzahl der präparierten Insekten des SMNK umfasst derzeit etwa 3 Millionen, die in über 20.000 Insektenkästen untergebracht sind. Dazu kommt von einigen Gruppen umfangreiches Alkoholmaterial, so z. B. von Springschwänzen. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt bei den Schmetterlingen, die mit ca. 2.4 Millionen Exemplaren vertreten sind. Homepage

 

SNSB-Zoologische Staatssammlung München
Die ZSM ist, mit fast 22 Millionen zoologischen Objekten, eine der größten naturkundlichen Forschungssammlungen der Welt und gehört zu den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns (SNSB). Die entomologische Sektion umfasst: Coleoptera, Diptera, Hemiptera, Hymenoptera, Lepidoptera und Insecta varia. Homepage

 

Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig
Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig verfügt über umfangreiche entomologische Sammlungen – darunter zu Libellen, zu Zweifüglern wie Fliegen, zu Käfern, zu Schmetterlingen und zu Tausendfüßern. Homepage

 

Naturkundemuseum Stuttgart
Die entomologische Sammlung ist mit mehr als 5,5 Millionen Objekten aus aller Welt die umfangreichste Sammlung des Museums. Die Trockensammlung enthält in 22.000 Kästen ungefähr 4,8 Millionen präparierte und etikettierte Insekten. Hinzu kommt Alkoholmaterial. Homepage

 


 

Veranstaltung: „Kul­tur braucht In­klu­si­on – In­klu­si­on braucht Kul­tur“. Ei­ne Be­stands­auf­nah­me

 

Im Jahr 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert. In diesem Völkerrechtsvertrag werden die Rechte von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen präzisiert, auch in den Bereichen Medien und Kultur. Doch wie steht es mit der Präsenz von Menschen mit Behinderungen im Kulturbetrieb und in den Medien? Wie viele sind zu sehen, zu erleben, zu hören – ganz selbstverständlich als Künstlerinnen und Künstler? Wie offen sind Kultureinrichtungen oder Medienbetriebe für Mitarbeiter*innen mit Behinderungen? Und wie sieht es mit dem Publikum aus? Wie inklusiv sind Kultureinrichtungen? Welche speziellen Angebote gibt es für Menschen mit Behinderungen und wie zugänglich sind diese? Und schließlich: Wie stehen wir im europäischen und internationalen Vergleich da?

 

Diesen und weiteren Fragen soll in einer gemeinsamen Tagung des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und des Deutschen Kulturrates am 22. Juni 2021 ab 12 Uhr nachgegangen werden.

 

Ziel ist es, Einblicke in verschiedene Felder des Kulturbereichs zu gewinnen und gemeinsam mit Expert*innen zu erkunden, welche guten und nachahmenswerten Beispiele es bereits gibt. Welche Herausforderungen bestehen und vor allem, welche Schritte müssen in der Zukunft unternommen werden, damit Menschen mit Behinderungen selbstverständlich in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern des Kultur- und Medienbetriebs arbeiten oder einfach nur Kunst und Kultur genießen können

 

Hier finden Sie weitere Informationen.

 


 

Interesse an Mentoring-Programm für Frauen reißt nicht ab

 

Die Ausschreibungsfrist für die 5. Mentoring-Runde „Frauen in Kultur & Medien“ des Deutschen Kulturrates ist am 1. Juni abgelaufen. Dieses Mal bewarben sich 320 Frauen – das ist noch einmal mehr als in den Vorrunden. Die Zahl der Mentorinnen und Mentoren konnte um zwei auf insgesamt 28 erweitert werden. So wird den ambitionierten Frauen, die alle eine anspruchsvolle Führungsrolle in Kultur und Medien anstreben, ab Herbst wieder eine hochkarätig besetzte Gruppe von Wegbegleitern für ein halbes Jahr ehrenamtlich zur Seite stehen.

 

Weitere Informationen zum Programm finden Sie hier.

 


 

JaAberUnd #4: Gesellschaftlicher Zusammenhalt – Wie solidarisch ist unsere Gesellschaft in der Coronakrise?

 

Wie ist es aktuell um den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestellt? Wie solidarisch ist unsere Gesellschaft in der Coronakrise? Werden die Engagementbereiche gegeneinander ausgespielt z. B. Kultur versus Soziales? Werden die kommenden Einsparungen z. B. in den Kommunen das Engagement gefährden?

 

Mit diesen Fragen ging am 01. Juni „JaAberUnd – Die Debattenplattform von Politik & Kultur“ in die vierte Runde.

 

Shai Hoffmann, Sozialunternehmer, Dr. Alexandra Manske, Soziologin, Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Der Paritätische, und Olaf Zimmermann, Geschäftsführer Deutscher Kulturrat und Herausgeber Politik & Kultur, diskutierten über gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität in der Coronakrise.

 

Schauen Sie die gesamte 4. Ausgabe von JaAberUnd jetzt hier in voller Länge an.

 


 

Noch fünf Tage bis zur vierten Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration am 8. Juni 2021

 

„Erwerbsarbeit ist wichtig für Teilhabe, Identifikation und sozialen Zusammenhalt“, so lautet die These 14 der 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration, die den Fokus der vierten Jahrestagung bildet. Im Jahr 2016 hat das breite Bündnis von 28 Institutionen und Organisationen aus Zivilgesellschaft, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Sozialpartnern, Medien, Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden die 15 Thesen für „Zusammenhalt in Vielfalt“ als Grundlage für die kulturelle Integration aller in Deutschland lebenden Menschen formuliert.

 

U.a. mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters MdB; Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes; Hubertus Heil MdB, Bundesminister für Arbeit und Soziales und Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des dbb beamtenbund und tarifunion.

 

Coronabedingt wird die Jahrestagung aus dem dbb forum berlin live gestreamt.

 

  • Hier finden Sie das detaillierte Programm der Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration.
  • Hier geht es direkt zur Anmeldung für die Online-Workshops.

 


 

Text der Woche: Johann Hinrich Claussen „Mehr Distanzbewusstsein, weniger Identifikation – Problematische Tradition des Gedenkens“

 

Also, um das einmal klarzustellen: Ich bin nicht Sophie Scholl. Dietrich Bonhoeffer bin ich übrigens ebenfalls nicht, auch nicht Helmuth James Graf von Moltke oder gar Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Warum musste das einmal gesagt werden?

 

Es gibt in Deutschland eine lange und problematische Tradition, unserer wenigen Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur und der christlichen Märtyrer aus dieser Zeit in einer vereinnahmenden Weise zu gedenken. Man hebt sie auf ein Podest, glättet ihre Gesichtszüge, verwandelt ihre zerrissenen Biografien in erbauliche Legenden, verehrt sie andächtig und macht sie sich dabei selbst zunutze, gebraucht sie, um unter Berufung auf ihre heiligen Namen eigene Anliegen zu befördern. So weit, so bekannt.

 

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.

 

Lesen Sie den Text hier!


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