8. Oktober 2010 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Positionen

Lernorte interkultureller Bildung im vorschulischen und schulischen Kontext


Berlin, den 08.10.2010. Deutschland ist geprägt durch die Vielfalt der in Deutschland lebenden Kulturen und Traditionen. Heute leben in Deutschland insgesamt 15,6 Millionen Personen mit Migrationshintergrund[1]. Dies entspricht einem Anteil von 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung. In manchen Regionen Deutschlands verfügen heute sogar rund 40 Prozent und mehr der Kinder unter zehn Jahren über eine Zuwanderungsgeschichte.

 

Mit der vorliegenden Stellungnahme unterbreitet der Deutsche Kulturrat gemeinsam mit

  • dem Bund Spanischer Elternvereine e.V.,
  • der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in der Bundesrepublik Deutschland e.V.,
  • dem Bundesverband der Migrantinnen in Deutschland e.V.,
  • dem CGil-Bildungswerk e.V.,
  • der Deutschen Jugend aus Russland e.V.,
  • der Föderation der türkischen Elternvereine in Deutschland e.V.,
  • dem Forum der Migrantinnen und Migranten im Paritätischen Wohlfahrtsverband,
  • dem Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.,
  • dem Polnischen Sozialrat e.V.

 

Vorschläge für Strukturbedingungen für eine nachhaltige interkulturelle Bildung im vorschulischen und schulischen Kontext. Diese Strukturbedingungen sollen es ermöglichen, dass kulturelle Bildung, interkulturelle Bildung und die Vielfalt der Kulturen feste Bestandteile in der Bildungspolitik sowie der Bildungspraxis werden. Dabei wird im Sinne der UNESCO von einem weiten Kulturbegriff ausgegangen, der nicht nur Kunst und Literatur einschließt, sondern auch „Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen“ (UNESCO-Erklärung, 1982).

 

Im Sinne des „UNESCO-Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ (UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt, 2005) wird Vielfalt als die „mannigfaltige Weise, in der die Kulturen von Gruppen und Gesellschaften zum Ausdruck kommen“ definiert. Vielfalt zeichnet sich in diesem Sinne nicht nur in der unterschiedlichen Weise aus, in der das Kulturerbe bereichert und weitergegeben wird, sondern auch in den „vielfältigen Arten des künstlerischen Schaffens, der Herstellung, der Verbreitung, des Vertriebs und des Genusses von kulturellen Ausdrucksformen, unabhängig davon, welche Mittel und Technologien verwendet werden.“ (vgl. UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt, 2005)

 

Das kulturelle Leben ist veränderbar, es ist nie statisch, sondern immer einem Prozess unterworfen und in unterschiedlichen Kontexten zu verstehen. Kulturelles Leben befindet sich in einem steten Wandel. Zum einen durch sich selber heraus, zum anderen durch den Zuzug von Menschen aus allen Teilen der Welt. So sind die kulturellen Ausdruckformen von Zuwanderinnen und Zuwanderern Teil des kulturellen Lebens der deutschen Gesellschaft.

 

Kulturelle Bildung / Interkulturelle Bildung
Obwohl sich Kulturen immer und zu jeder Zeit verändert haben, gilt es doch für viele Menschen als elementar, kulturelle Wurzeln wie Sprache, Traditionen und Feste fortzuführen und das insbesondere durch die Vermittlung kultureller Bildung. Dies ist ein dem Menschen inhärentes Anliegen, denn es sichert ein Gefühl der jeweiligen Dazugehörigkeit. Kulturelle Bildung ist eine Voraussetzung für eigene künstlerische Ausdrucksfähigkeit sowie die aktive Rezeption von Kunst und Kultur. Nur wer ein kulturelles Fundament vermittelt bekommt, kann dieses auch in neue Formen von Kunst und Kultur transformieren. Dies setzt aber die grundsätzliche Gleichberechtigung und Wertschätzung der verschiedenen kulturellen Hintergründe und Einflüsse voraus.

 

Kulturelle Bildung ist ein geeignetes Feld für die Vermittlung interkultureller Bildung, die hier als Dreiklang von „interkultureller Öffnung“, „Erwerb interkultureller Kompetenzen“ und „interkulturellem Dialog“ betrachtet wird. Kulturelle Bildung als Handlungsfeld der interkulturellen Bildung muss sich demnach immer zwischen der Bewahrung der Vielfalt der Kulturen und der Öffnung für neue kulturelle Ausdrucksformen bewegen. In diesem Sinne ist kulturelle Bildung eine Triebfeder, die Menschen hilft, ihre Identität innerhalb einer Gesellschaft zu bilden und zu gestalten. Zudem eröffnet kulturelle Bildung Chancen zur Auseinandersetzung mit eigenen Traditionen und schafft zugleich Voraussetzungen für die Offenheit in der Begegnung mit anderen kulturellen Einflüssen.

 

Kulturelle Bildung und interkulturelle Bildung sind für die Entwicklung und die Bildungsbiographien von Kindern und Jugendliche aber auch von Erwachsenen aller Altergruppen essentiell. Von daher müssen Zugänge zu Kunst und Kultur in allen Lern- und Bildungsorten gewährleistet werden. Dabei sollte die Vermittlung von Bildung und Kultur das kulturelle Erbe, die zeitgenössischen Künste sowie die Kulturen anderer Länder einbeziehen.

 

Lernorte kulturelle und interkultureller Bildung
Der Deutsche Kulturrat und die genannten Verbände sprechen sich für eine nachhaltige kulturelle und interkulturelle Bildung aus, die in den Familien, Kindertageseinrichtungen, Schulen, Hochschulen, außerschulischen Bildungseinrichtungen, Kulturvereinen, Kultureinrichtungen etc. gewährleistet wird und deren primären Handlungsfelder Musik, Theater, Tanz, bildende Kunst, Literatur, Film / Neue Medien, Baukultur etc. sind.

 

Bei der Vermittlung von kultureller Bildung bzw. interkultureller Bildung im Kontext der vorschulischen und schulischen Bildung geht es vor allem um fünf wesentliche Aspekte:

  1. Die grundsätzliche Stärkung und Förderung interkultureller Bildung im Rahmen der kulturellen Bildung in der vorschulischen, schulischen, beruflichen und nachberuflichen sowie der außerschulischen Bildung.
  2. Die Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, inklusive der Muttersprachen der Zuwanderer.
  3. Die individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlicher unter besonderer Berücksichtigung ihres kulturellen Hintergrundes.
  4. Die interkulturelle Qualifikation von Erziehern, Lehrern und Pädagogen.
  5. Die interkulturelle Öffnung und Professionalisierung aller zivilgesellschaftlichen Strukturen.

Die Verbände kommen darin überein, dass sich die kulturelle Vielfalt in Deutschland auch in der Vermittlung der kulturellen Bildung widerspiegeln muss.

 

Kindertageseinrichtungen
In Kindertageseinrichtungen wird kulturelle Vielfalt sinnlich erlebbar und lebendig vermittelt. Neben dem Spracherwerb besteht hier die Gelegenheit, sich mit Kunst und Kultur spielerisch auseinanderzusetzen. Die Kinder lernen frühzeitig mit unterschiedlichen Werten und Lebensweisen umzugehen. Sie erfahren, dass ihre Kultur und ihre Traditionen anerkannt und wertgeschätzt werden. So sind Kindergärten und Kindertagesstätten die ersten Orte des institutionellen, wenn auch noch non-formalen interkulturellen Lernens. Um allen Kindern den Zugang zu frühkindlicher Bildung zu ermöglichen, müssen Kindertagesstättenplätze flächendeckend und in ausreichender Anzahl angeboten werden, so dass Kinder so früh wie möglich mit Kunst und Kultur in Berührung kommen und sich darüber mit den verschiedenen Kulturen und kulturellen Einflüssen auseinandersetzen können.

 

Neben der deutschen Sprache sollten auch weitere Sprachen in den Kindertageseinrichtungen gefördert werden, denn diese geben mehrsprachig erzogenen Kindern insbesondere im Rahmen der frühkindlichen Bildung einen wichtigen Referenzrahmen. Daher sprechen sich die Verbände dafür aus, bilinguale Erziehung verstärkt in Kindertageseinrichtungen einzuführen.

 

Schulen
Auch in der formalen Bildung muss interkulturelle Bildung verstärkt Teil der kulturellen Bildung werden. So müssen in den Schulen die ästhetischen Fächer und Arbeitsgruppen gestärkt und verbessert werden, da die Schulen die Institutionen sind, in der alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können.

 

Die Vermittlung der deutschen Sprache muss so früh wie möglich gefördert werden; dies sowohl in den Kindertageseinrichtungen als auch in den Grund- und weiterführenden Schulen. Zudem sollte aber auch der Fokus auf Mehrsprachigkeit gelegt werden, weil sie ein großer Wert in der globalisierten Welt darstellt. Zum anderen, weil damit den vielfältigen Kulturen der zugewanderten Kinder und Jugendlichen Wertschätzung entgegengebracht wird.

 

Hochschulen
Für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen müssen Lehrer, Pädagogen und Erzieher die nötigen interkulturellen Qualifikationen erhalten. Interkulturelle Qualifikationen und Kompetenzen von Lehrern, Pädagogen und Erziehern bedeutet nicht nur die Vermittlung von Deutsch-als-Zweitsprache bzw. der Muttersprache, sondern auch der Umgang mit der kulturellen Heterogenität der Kinder und Jugendlichen, die sich in ganz unterschiedlichen Facetten zeigen kann. Dazu gehört sowohl die individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen, als auch die sich daraus ergebenen Herausforderungen anzunehmen und Perspektiven zu entwickeln, wie jedes Kind und Jugendlicher mit seinen Potentialen und Fähigkeiten gefördert und Chancengleichheit erzielt werden kann. Diese Qualifikationen sollten Lehrer, Pädagogen und Erzieher bereits frühzeitig und fächerübergreifend in ihrer Ausbildung, sei es an den Universitäten, Fachhochschulen oder Fachschulen erlernen. Dazu werden die Hoch-, Fachhochschulen und Fachschulen aufgefordert, interkulturelle Curricula für die Lehrer-, Pädagogen- und Erzieherausbildung zu entwickeln.

 

Kooperationen mit außerschulischen kulturellen Bildungsangeboten
Neben der vorschulischen und schulischen Bildung spielen Eltern, Großeltern und außerschulische Partner bei kulturellen und interkulturellen Bildungsprozessen eine wichtige Rolle. Diese Bildungspartnerschaften sollten bei der Lernförderung von Kindern und Jugendlichen verstärkt einbezogen werden. Bereits heute gibt es zahlreiche Kooperationsprojekte zwischen schulischen und außerschulischen Partnern, die Modellcharakter haben.

 

Migrantenorganisationen und -vereine sowie Kultureinrichtungen, Künstler und außerschulische Bildungsakteure vor Ort in den Stadtteilen sind wichtige Kooperationspartner, da sie das inhaltliche Spektrum der schulischen kulturellen Bildung noch erweitern können. So bieten neben den traditionellen außerschulischen kulturellen Bildungsorten wie Musikschulen, Jugendkunstschulen, Bibliotheken, Volkshochschulen etc. auch viele Migrantenvereine eine Reihe an kulturellen Aktivitäten wie Musizieren, Singen, Malen, Lesen, Tanzen etc. an. Die verstärkte Zusammenarbeit mit diesen Vereinen vor Ort würde auch die kulturellen Traditionen der Zuwanderer stärker in der vorschulischen, schulischen und außerschulischen Bildung berücksichtigen und sie zudem darin unterstützen, sich als Bildungspartner weiterzuentwickeln.

 

Zudem sollten Zugänge zu Kunst und Kultur sowie Orte geschaffen werden, in denen sich Kinder und Jugendliche wiederfinden, um ihre Kreativität ausleben und gestalten zu können. Dazu gehört die Bereitstellung von Räumen, in denen „Kultur“ ausprobiert und gelebt werden kann. Um solche „interkulturellen Kristallisationsorte“ zuschaffen, ist es wichtig, flexible Nutzungen insbesondere der schulischen Räume, beispielsweise für Nachmittagsangebote von Kulturvereinen, zu gewährleisten.

 

Empfehlungen
Für die Umsetzung einer nachhaltigen interkulturellen Bildung im vorschulischen und schulischen Kontext, sehen es die Verbände als notwendig an, bestimmte Rahmenbedingungen zu erfüllen. Dazu gehören insbesondere:

  • Interkulturelle Öffnung der Bildungsstrukturen.
  • Die Wertschätzung und gleichberechtigte Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Kulturen, Traditionen und künstlerischen Einflüssen der Zuwanderer, die sich auch in den Bildungscurricula widerspiegeln sollten.
  • Die stärkere Berücksichtigung und Förderung der Mehrsprachigkeit / Muttersprachen in Schulen und Kindertageseinrichtungen.
  • Die Erhöhung des Personalschlüssels von Lehrern, Pädagogen und Erziehern, die sich den unterschiedlichen Bedarfen der Kinder widmen können.
  • Die verstärkte Einstellung von Erziehern, Pädagogen und Lehrern mit Zuwanderungsgeschichte, um ihre Sichtbarmachung und Teilhabe an Bildungsstrukturen zu erhöhen, Kinder und Jugendliche zur Identifikation zu ermutigen und Zugänge zu Eltern und Communities zu erleichtern.
  • Die Vermittlung interkultureller Kompetenzen innerhalb der Ausbildung von Erziehern, Pädagogen und Lehrern.
  • Die Bereitstellung und flexible Nutzungen von Räumen, in denen „Kultur“ gestaltet werden kann.
  • Die stärkere Förderung von Kooperationen zwischen Schulen und Kindertageseinrichtungen mit Künstlern, außerschulischen Kultur- und Bildungseinrichtungen und Kulturvereinen vor Ort.

 

Vor allen diesen Forderungen steht zunächst die Vermittlung von Informationen: Schüler, Eltern, Kultureinrichtungen, außerschulische kulturelle Bildungseinrichtungen, Migrantenorganisationen und Kulturvereine sollten verstärkt über ihre jeweilige Aktivitäten in den Lernorten der kulturellen Bildung informieren und Lehrer, Erzieher und Eltern zur Mitarbeit und Kooperation eingeladen werden. So kann aus Kultur in Schule und Kindertageseinrichtung eine „Schul- bzw. Kindertagesstättenkultur“ aufgebaut werden, die über den Schulhof hinaus in den Stadtteil ragt. Dafür müssen finanzielle Mittel zu Verfügung gestellt werden.

 


 

[1] In der vorliegenden Stellungnahme wird der Begriff „Person mit Zuwanderungsgeschichte / Migrationshintergrund“ in der Definition des Statistischen Bundesamtes verwendet. Als Personen mit Migrationshintergrund werden demnach definiert „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/positionen/lernorte-interkultureller-bildung-im-vorschulischen-und-schulischen-kontext/