4. Oktober 2010 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Positionen

Gesetzliche Neuregelung zur schnellen und rechtssicheren Digitalisierung verwaister und vergriffener Werke sind erforderlich: Resolution


Berlin, den 04.10.2010. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, begrüßt, dass mit der „Deutschen Digitalen Bibliothek“ ein großes Vorhaben auf den Weg gebracht wurde und finanziell unterstützt wird, um deutschsprachige Bücher zu digitalisieren und damit für Bildung und Wissenschaft sowie interessierte Bürger und Bürgerinnen zugänglich zu machen. Dieses von den Bibliotheken getragene, nicht kommerzielle Vorhaben ist ein wichtiger kulturpolitischer Beitrag sowohl zur Sicherung als auch zur Zurverfügungstellung von Kulturgut. Die „Deutsche Digitale Bibliothek“ wird gleichzeitig Teil der europaweiten digitalen Bibliothek „Europeana“ sein, so dass das europäische schriftliche Kulturerbe in breitem Umfang digital zur Verfügung gestellt werden kann.

 

Digitalisierung von Werken
Unproblematisch ist die Digitalisierung von sogenannten gemeinfreien Werken, d.h. von Werken, deren Autor bereits 70 Jahre tot ist. Diese Werke können ohne weitere Nachfragen digitalisiert und in der Deutschen Digitalen Bibliothek respektive der Europeana zugänglich gemacht werden. Anders stellt es sich für sogenannte verwaiste oder vergriffene Werke dar. Bei verwaisten Werken handelt es sich um geschützte Werke, deren Rechteinhaber, Autor oder Verlag, nicht ermittelt oder ausfindig gemacht werden kann. Vergriffene Werke sind Werke, die durch den Verlag nicht geliefert werden können. Verwaiste Werke sind in der Regel auch vergriffen, umgekehrt gibt es aber viele vergriffene Werke, deren Rechteinhaber bekannt ist, die also nicht verwaist sind.

 

Bei der Digitalisierung der Werke und der anschließenden Bereitstellung im Internet sind nach deutschem Urheberrecht das Vervielfältigungsrecht (§ 16 UrhG) und das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a UrhG) betroffen. Einschlägige Schrankenbestimmungen zu Gunsten der Bibliotheken sind insoweit nicht vorhanden. Die erforderlichen Rechte müssen deshalb von den Rechteinhabern – Urheber oder Verlag – eingeholt werden. Das kann sehr aufwändig sein und ist bei verwaisten Werken, bei denen die Rechteinhaber stets unbekannt sind, unmöglich.

 

Digitalisierung verwaister und vergriffener Werke
Um die Digitalisierung verwaister und bestimmter vergriffener Werke voranzutreiben, haben sich Vertreter der Rechteinhaber (Autoren sowie Verlage), der Bibliotheken sowie die Verwertungsgesellschaft Wort und die Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst auf ein Modell verständigt, dass sowohl eine Vergütung als auch die Widerspruchsmöglichkeit der Rechteinhaber sicherstellt.

 

Verwaiste Werke
Im Hinblick auf verwaiste Werke ist zunächst auf der Grundlage eines Suchplans („sorgfältige Suche“) durch die Bibliotheken zu klären, ob die Rechteinhaber eines Werkes ermittelt und ausfindig gemacht werden können. Dazu gehört z.B. der Abgleich mit dem Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB), dem Verlagsarchiv des Börsenvereins oder den Datenbanken der Verwertungsgesellschaften. Steht am Ende fest, dass es sich um ein verwaistes Werk handelt, so erfolgt die Zahlung einer Vergütung an die Verwertungsgesellschaft. Die Verwertungsgesellschaft stellt die Bibliothek von einer Haftung frei. Die Vergütung wird zunächst zurückgestellt. Wird der Rechteinhaber später – aber noch innerhalb der urheberrechtlichen Schutzfrist des Werkes – bekannt, so schüttet die Verwertungsgesellschaft die Vergütung an ihn aus. Außerdem hat der Rechteinhaber die Möglichkeit, einer Nutzung durch die Bibliotheken zu widersprechen. Bleibt der Rechteinhaber bis zum Ablauf der Schutzfrist unbekannt, so werden die zurückgestellten Gelder an die Gemeinschaft der Rechteinhaber ausgeschüttet oder – das ist noch zu klären – möglicherweise auch den Sozial- oder Kultureinrichtungen der Verwertungsgesellschaften zugewiesen.

 

Damit dieses Modell greifen kann, ist es erforderlich einen neuen § 13 e in das Urheberrechtswahrnehmungsgesetz aufzunehmen, der den o.g. Sachverhalt regelt. Eine Formulierung könnte wie folgt lauten:

 

§ 13e UrhWG – neu – Verwaiste Werke

(1) Hat eine sorgfältige Suche ergeben, dass bei geschützten Werken der Rechteinhaber nicht feststellbar ist, so gilt die Verwertungsgesellschaft, die Rechte an Werken dieser Art wahrnimmt, als berechtigt, Nutzungsrechte für die elektronische Vervielfältigung und öffentliche Zugänglichmachung einzuräumen. Für die Nutzung ist eine angemessene Vergütung zu zahlen. Die Verwertungsgesellschaft hat den Nutzer von Vergütungsansprüchen des Rechteinhabers freizustellen.

(2) Wird der Rechteinhaber bekannt, so hat er im Verhältnis zu der Verwertungsgesellschaft die gleichen Rechte und Pflichten, wie wenn er ihr seine Rechte zur Wahrnehmung eingeräumt hätte. Die Berechtigung der Verwertungsgesellschaft entfällt mit Wirkung für die Zukunft, wenn der Rechteinhaber ihr gegenüber schriftlich erklärt, seine Rechte selbst auszuüben.

 

Vergriffene Werke
Bei vergriffenen Werken geht der Vorschlag dahin, dass bei Werken, die vor 1966 veröffentlicht wurden und nicht kommerziell genutzt werden sollen, ebenfalls eine Rechteeinräumung über die Verwertungsgesellschaft ermöglicht wird. Die Verwertungsgesellschaften Wort und Bild-Kunst haben ihre Wahrnehmungsverträge bereits entsprechend geändert. Diese Änderungen gelten aber nur für die Wahrnehmungsberechtigten der Verwertungsgesellschaften. Zur Erleichterung der Digitalisierungsvorhaben für die Bibliotheken sollte ergänzend eine widerlegbare Vermutung in das Urheberrechtswahrnehmungsgesetz aufgenommen werden, wonach die Verwertungsgesellschaft, die Rechte dieser Art wahrnimmt, sämtliche Rechteinhaber vertreten kann. Es handelt sich insoweit um eine Regelung für Außenseiter, zu denen allerdings auch unbekannte oder nicht ermittelbare Rechteinhaber gehören können. Es würden demnach – in einem gewissen Umfang – auch verwaiste Werke erfasst werden. Dieser Vorschlag hätte für die Bibliotheken den erheblichen Vorteil, dass bei Werken, die vor 1966 erschienen sind, lediglich geprüft werden müsste, ob es sich um ein vergriffenes Werk handelt („Prüfung im VLB“). Wenn dies der Fall ist, könnte ohne weitere Suche eine Lizenzierung über die Verwertungsgesellschaft erfolgen. Soweit es sich um Wahrnehmungsberechtigte der Verwertungsgesellschaft handelt, nimmt diese die Rechte aufgrund der Rechteeinräumung im Wahrnehmungsvertrag wahr. Im Hinblick auf Außenseiter würde zunächst die Vermutungsregelung gelten. Soweit ein Außenseiter keine Rechtewahrnehmung durch die Verwertungsgesellschaften wünscht, könnte er dies jederzeit erklären und damit die Vermutungswirkung widerlegen.

 

Folgende Formulierung wird vorgeschlagen:

 

§ 13d UrhWG – neu – Vergriffene Werke

Nimmt eine Verwertungsgesellschaft Rechte für die elektronische Vervielfältigung und öffentliche Zugänglichmachung von vergriffenen Werken für nicht gewerbliche Zwecke wahr, so wird bei Werken, die vor dem 1. Januar 1966 erschienen sind, vermutet, dass die Verwertungsgesellschaft die Rechte aller Berechtigten wahrnimmt. Sind mehr als eine Verwertungsgesellschaft zur Wahrnehmung berechtigt, so gilt die Vermutung nur, wenn die Rechte von allen berechtigten Verwertungsgesellschaften gemeinsam wahrgenommen werden. Soweit die Verwertungsgesellschaft Zahlungen auch für Berechtigte erhält, deren Rechte sie nicht wahrnimmt, hat sie den Nutzer von Ansprüchen dieser Berechtigten freizustellen.

 

Die Politik muss jetzt handeln!
Der Deutsche Kulturrat fordert die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag auf, unabhängig von derzeit stattfindenden Beratungen zum sogenannten Korb III „Urheberrecht in der Informationsgesellschaft“ Regelungen zur Digitalisierung und Zugänglichmachung von verwaisten und vergriffenen Werken sehr zügig auf den Weg zu bringen. Gerade mit Blick auf die dynamische Entwicklung bei der Bereitstellung von digitalisierten Büchern in der Europeana ist es erforderlich, dass Deutschland nicht den Anschluss an die Informationsgesellschaft verliert.


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