Tötet das Virus den Jazz?

Viele Musikerinnen und Musiker stehen in der Corona-Krise vor dem Aus

„Jazz is not dead, it just smells funny – Jazz ist nicht tot, er riecht nur komisch.“ So amüsant dieses Bonmot von Frank Zappa sein mag – die aktuelle, durch die rasante Ausbreitung des neuartigen Coronavirus verursachte Krise lässt ernste Befürchtungen aufkommen, dass der Spaß für viele Jazzmusikerinnen und -musiker bald vorbei sein wird.

 

Abgesagte Messen wie die jazzahead! in Bremen oder die Musikmesse in Frankfurt, geschlossene Konzertorte und auf unbestimmte Zeit verschobene Veranstaltungen: Von der Corona-Krise sind Großveranstaltungen genauso betroffen wie unzählige Jazzclubs und Kleinkunstbühnen. Die Kulturbranche ächzt, und gerade die überwiegend freiberuflichen Jazzmusikerinnen und -musiker werden von den verhängten Maßnahmen hart getroffen und in ernste wirtschaftliche Bedrängnis gebracht. Manche Existenz steht vor dem finanziellen Abgrund. Kurzfristig bedeuten die Absagen und Schließungen für nahezu sämtliche Kunst- und Kulturschaffenden de facto ein Berufsverbot. Unmittelbar betrifft das nahezu alle Jazzmusiker und -lehrende in Deutschland. Über die mittel- und langfristigen Auswirkungen kann zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Auch wenn die häusliche Isolation dazu führt, dass neue Formen der künstlerischen Produktion und der pädagogischen Arbeit ausprobiert werden, so stehen zahllose Einzelkünstlerinnen und -künstler, Ensembles, aber auch Veranstaltungsorte und Labels vor dem Ruin.

 

Gerade die freischaffenden Akteurinnen und Akteure der ohnehin unterfinanzierten Jazzszene geraten wie viele andere selbständige Kunst- und Kulturschaffende durch absagebedingte Verdienstausfälle unmittelbar in wirtschaftliche Bedrängnis. Ein Blick in die von der Bundesregierung finanzierte Jazzstudie 2016 schafft beklemmende Gewissheit: Die Hälfte der Jazzmusikerinnen und -musiker in Deutschland verfügt über ein Jahresbruttoeinkommen von weniger als 12.500 Euro – nicht musikalische Tätigkeiten inbegriffen. Dass bei einem Bruttoverdienst knapp über dem Existenzminimum kaum Rücklagen gebildet werden können, sodass bereits einzelne Gagenausfälle erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Existenz haben können, liegt auf der Hand. Aktuell jedoch brechen in vielen Fällen sämtliche Einnahmen weg, und das obendrein plötzlich und auf unabsehbare Zeit.

 

Angesichts der Krise ist die Solidarität inner- wie außerhalb der Kulturszene groß. So werden Spenden- und Hilfsaktionen ohne Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Genres gestartet. Damit selbständige Kunst- und Kulturschaffende aber trotz gravierender Einnahmeausfälle Mieten zahlen und laufenden Verbindlichkeiten nachkommen können, ist in ganz besonderem Maße die Politik gefragt. Sie muss verhindern, dass etliche Akteurinnen und Akteure der ohnehin unterfinanzierten Jazzszene in die Privatinsolvenz gehen müssen. Der zu befürchtende Schaden wäre nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die deutsche Kulturlandschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt immens.

 

Die aktuelle Situation erfordert in nie dagewesenen Maße Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein aller Bürgerinnen und Bürger. Es wäre fatal, Lösungen nur für eine Sparte oder ein Genre zu suchen. Auch für Kunst- und Kulturschaffende müssen in erster Linie übergeordnete Zusammenschlüsse wie der Deutsche Kulturrat, der Deutsche Musikrat und die Allianz der freien Künste die Interessen der verschiedenen Bereiche gemeinsam vertreten. Allein die Allianz der freien Künste etwa vertritt mit den in ihr zusammengeschlossenen 18 Bundesverbänden über 250.000 selbständige Kunst- und Kulturschaffende, die ein Schicksal teilen: Die absagebedingten Verdienstausfälle sind existenziell bedrohlich und können von sehr vielen nicht aus eigener Kraft abgefangen werden.

 

Nach ersten Schätzungen der Deutschen Jazzunion besteht allein für die mehr als 5.000 ausübenden Jazzmusikerinnen und -musiker in Deutschland ein Kompensationsbedarf von mindestens 7,5 Millionen Euro, um zumindest einen Teil der Verdienstausfälle in den zunächst von den staatlichen Beschränkungen betroffenen sechs Wochen auszugleichen und die individuelle Liquidität aufrechtzuerhalten. Für die gesamte Breite der selbständigen Kunst- und Kulturschaffenden aller Sparten rechnet der Berufsverband für diesen Zeitraum mit einem akuten Bedarf von mindestens 85 Millionen Euro, wobei es nur um ein Abfangen der gröbsten sozialen Härten geht, und nicht um einen realen Verlustausgleich.

 

Gerade in Kombination mit der von der Bundesregierung geplanten Grundrente, die aufgrund der zu hohen Zugangsbarrieren in Form des vorgesehenen Mindestjahreseinkommens unzählige Jazzmusikerinnen und -musiker auszuschließen droht – zeigt sich die Dringlichkeit der politischen Aufgabe, Kunst- und Kulturschaffende aus der nach wie vor überwiegend prekären wirtschaftlichen Lage herauszuführen. In der aktuellen Krise wird besonders deutlich, welche enormen gesellschaftlichen Verwerfungen entstehen, wenn ganze Berufszweige, die zweifelsohne unverzichtbare Beiträge für den Zusammenhalt einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft leisten, nicht in der Lage sind, soziale Härten aus eigenen Kräften abzufedern. In dieser Hinsicht kann der sorgenvolle Blick auf die drohende Altersarmut vieler Jazzmusikerinnen und -musiker in der momentanen Lage einzig durch die globale Bedrohung und den Kampf gegen Covid-19 relativiert werden. Ein schwacher Trost.

 

Die Verbesserung der sozialen Lage der Jazzmusikerinnen und -musiker und aller anderen Kunst- und Kulturschaffenden in Deutschland aber bleibt über die Corona-Krise hinaus eines der dringlichsten Anliegen, mit denen sich die Kultur- und Sozialpolitik auf Bundesebene zu befassen hat. Der Jazz in Deutschland steht trotz der aktuellen existenziellen Bedrohungen für viele seiner Akteurinnen und Akteure sicher nicht vor dem Aus. Jazz ist nicht tot, sondern quicklebendig – und auch die Corona-Krise wird er überstehen. Damit die Jazzszene aber weiterhin und auf lange Sicht ein lebhafter und international anerkannter Bestandteil der Kulturnation Deutschland sein kann, bleibt viel zu tun!

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Urs Johnen
Urs Johnen ist Kontrabassist und Geschäftsführer der Deutschen Jazzunion.
Vorheriger Artikel„Normalerweise schaufeln wir um diese Zeit riesige Datenmengen durch unser Netz“
Nächster ArtikelMusikschulen und Covid-19: virtuell, virulent, virtuos, vivace