Zwischen Erwartungen, Realität und Forderungen: Einschätzungen und Meinungen aus den Verbänden zum „NEUSTART KULTUR“

 

Freie Szene

 

Wer in den zurückliegenden Wochen den Eindruck hatte, dass die Kultur in Deutschland keine Stimme und kein Gewicht hat, darf bei seinen Befürchtungen zumindest kurzfristig einmal innehalten. Das mit „NEUSTART KULTUR“ in Aussicht gestellte Förderpaket ist ohne Zweifel von historischer Dimension. Es war wichtig, dass der Kulturrat so früh in der Krise energisch auf die Notwendigkeit einer langfristigen Stärkung der Infrastruktur hingewiesen hat, und dass es der Kulturpolitik gelungen ist, das Paket mit einer Milliarde Euro zusätzlicher Mittel auszustatten, ist – gerade mit Blick auf die Kulturhoheit der Länder – eine deutliche Ansage. Jetzt kommt es aber auf die Umsetzung an.

 

Die vielen kleineren und mittleren, rein privatwirtschaftlich finanzierten Kulturstätten und -projekte sind mit dem Programm eindeutig adressiert. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, auch bislang ungeförderte Strukturen zu stärken. Das ist gut für die Freie Szene. Ebenso wichtig ist es jedoch, die zahlreichen Kultureinrichtungen und Projekte nicht aus dem Blick zu verlieren, die zwar privatwirtschaftlich organisiert sind, aber über eine anteilige öffentliche Finanzierung von Land und/oder Kommune verfügen. Ihr Überleben ist existenziell für freies künstlerisches Arbeiten und hier ist eine rasche Klarstellung nötig, dass diese Strukturen Teil des Paketes sind.

Zu den Vorschlägen des Deutschen Kulturrates zählte von Beginn an eine Verteilung der Mittel durch einzelne Verbände. Das erscheint sinnvoll, doch – trotz des enormen Zeitdrucks – braucht es ein transparentes Verfahren und die fachliche Einbindung auch kleinerer Verbände und Strukturen, auch wenn diese nicht über die Kapazität verfügen, selbst Fördermittel weiterzureichen.

 

Nach wie vor ungelöst ist die Existenzsicherung bei den zahlreichen freiberuflichen und soloselbständigen Akteurinnen und Akteuren. Sie sind elementarer Bestandteil der kulturellen Infrastruktur, doch für sie ist „NEUSTART KULTUR“ keineswegs der erhoffte Befreiungsschlag. Hinter uns liegt eine wochenlange, zermürbende – und zum Teil hitzig geführte – Diskussion zur Anerkennung eines Unternehmerlohns im Rahmen der Soforthilfen des Bundes. Nach zahlreichen Petitionen, Appellen und dramatischen Berichten aus der Praxis hat sich mittlerweile nicht nur im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages parteiübergreifend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Grundsicherung – entgegen bester Absicht – für die Vielzahl der Freiberufler und Soloselbstständigen praktisch nicht funktioniert und dass sich mit einem Unternehmerlohn im Rahmen der Sofort- und Überbrückungshilfen des Bundes die wirtschaftliche Existenz Tausender Kulturschaffender sichern ließe – vermutlich sogar kostenneutral zur Grundsicherung. Hier ist aktuell nicht einmal die Bazooka gefragt, sondern einfach nur – endlich – die beherzte Entscheidung der Koalition.

 

Ausgehend von diesen aktuellen Fragen wird deutlich, dass es zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur in Deutschland einen langen Atem braucht, der deutlich weiterreicht als bis zum Ende des kommenden Jahres. Viele der jetzt sichtbaren Problemstellungen rühren an Grundsätzliches, und es ist dringend geboten, die identifizierten Arbeitsfelder nicht aus dem Blick zu verlieren. Eines dieser grundlegenden Themen ist eine deutlich stärkere Einbeziehung der vielen freien Kulturschaffenden in die sozialen Sicherungssysteme.

 

Ein weiteres Thema ist die Finanzausstattung der Kommunen. Der Verteilungskampf um die Mittel der „freiwilligen Leistungen“ hat bereits begonnen. Hier braucht es eine systematische Stärkung der Kommunen und ein solidarisches Grundverständnis bei der Verteilung der Ressourcen. Gegenstand dieser Debatte muss eine grundlegende Veränderung der Kulturfördersysteme sein – weg von einem kurzfristigen Projektdenken hin zu flexiblen, aber dennoch stärker abgesicherten Strukturen. Auf die große To-do-Liste gehören weitere Themen, für die an dieser Stelle nicht der Raum ist – der Blick auf unsere europäischen und internationalen Kollegen, die Stärkung der internationalen Vernetzung und Mobilität sowie die Frage der Diversität unserer Strukturen stehen hier stellvertretend für eine Reihe von weiteren brennenden Themen, über die wir reden müssen. Auch für diese Diskurse brauchen wir einen langen Atem.

 

Stephan Behrmann ist Sprecher der Allianz der Freien Künste und Geschäftsführer des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste (BFDK)

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