Zukunft positiv gestalten

Kehrtwende zu einer anderen Kulturpolitik

Vom Gesundheitssystem bis zur Fleischverarbeitung: Schwachstellen unserer Gesellschaft wurden durch die Coronakrise aufgedeckt. Auch der Kulturbereich wurde von der Krise besonders stark getroffen. Damit stellt sich die Frage: War der Kulturbereich schon vor der Krise instabil? Und wenn ja, reichen Rettungsschirme dann aus? Oder bedarf es einer längst überfälligen Kehrtwende in der Kulturpolitik?

 

Kulturpolitische „Fallstricke“ vor der Krise

 

Mit den finanziellen Schwierigkeiten der Kommunen im Zuge der Wirtschaftskrise begann eine Ökonomisierung nichtwirtschaftlicher Bereiche vom Gesundheitswesen bis hin zur Kultur. Dies traf und trifft Kultur als freiwillige kommunale Aufgabe in besonderem Maße. Die Folgen: Ein im besten Falle gleichbleibender Etat wird mittels des sogenannten Gießkannenprinzips auf eine wachsende Kulturinfrastruktur mit steigendem Aufgabenprofil wie kulturelle Bildung, Audience Development, Diversität oder Digitalität aufgeteilt. Dabei werden neu gebildete Strukturen nicht mehr über Infrastrukturförderung, die Verpflichtung schafft, sondern im Zuge der Ökonomisierung über Projektmittel im Rahmen von Förderprogrammen abgewickelt. Zugleich wächst die Verpflichtung zum Erbringen höherer Eigenmittel. Kulturelle Bildungseinrichtungen müssen bis zu 60 Prozent Eigenmittel erwirtschaften. Öffentlich geförderte Musikschulen sind dadurch – da tarifgebunden – teilweise teurer als private Anbieter. Das Museum Ludwig in Köln erhöhte 1993 den Eintrittspreis von 5 DM zuerst auf 8 DM, später auf 10 DM. Heute sind es 11 Euro Eintritt. Diese Mischfinanzierungen erschweren kulturelle Teilhabe, befördern zeitlich befristete und prekäre Arbeitsverhältnisse sowie Grabenkämpfe zwischen etablierten und nicht infrastrukturgeförderten Kulturakteuren.

 

Eine distanzierte Betrachtung macht innerhalb der öffentlichen Kulturförderung gewisse Absurditäten sichtbar: Während die Gebühren der öffentlich geförderten Musikschulen im Verhältnis zu den Familieneinkommen gestiegen sind, wird der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung mit gebührenfreien kulturellen Bildungsprogrammen wie „Kultur macht stark“, die sich explizit an bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche richten, begegnet, allerdings auf Projektbasis, also zeitlich befristet. Gleichzeitig sind große Teile der kulturellen Bildung im Ganztag auf die Mitfinanzierung von Eltern und Stiftungen angewiesen. So wurde zwar in den letzten Jahren zumindest in den Museen weitgehend freier Eintritt für Kinder unter 18 Jahre etabliert. Wenn aber Eltern am Wochenende mit ihren Kindern das Museum Ludwig gemeinsam besuchen wollen, kostet das immer noch 22 Euro – nicht unerheblich für eine Familie mit mittlerem oder kleinem Einkommen.

 

Eine neue gemeinwohlorientierte Kulturpolitik?

 

In der Vergangenheit wurden mehrfach Versuche gestartet, Kultur als kommunale Pflichtaufgabe zu verankern, unter Stichworten wie kulturelle Grundversorgung oder Daseinsvorsorge. Diese Ansätze argumentieren nicht aus der Perspektive der kulturellen Infrastruktur heraus, sondern machen eine gemeinwohlorientierte Argumentationslinie aus Bürgersicht auf. Sie wurden jedoch nie zu Ende gedacht, aufgrund der – vielleicht nicht ganz unberechtigten – Sorge um Verlust der bestehenden Vielfalt der kulturellen Angebotslandschaft. Denn mit der Gemeinwohlorientierung steht die Frage im Raum: Wie viel Kultur braucht der Bürger? Und welche Kultur?

 

Die Definition einer kulturellen Daseinsvorsorge ist also herausfordernd: eine gestalterische Aufgabe für eine gemeinwohlorientierte Kulturpolitik des 21. Jahrhunderts! Eine solche Anstrengung könnte jedoch lohnen mit Blick auf ganz andere Aktionsradien. Wenn öffentlich geförderte Kultur und kulturelle Bildung nicht mehr als Dienstleistung, sondern als kommunale Bürgerleistung begriffen würde, könnte dies den Rückgriff auf den öffentlichen Raum ermöglichen, als eintrittsfreie bespielbare Fläche für Orchester oder Theater, die so neue Bevölkerungsgruppen erreichen könnten. Mit Verzicht auf den Erwerb von Eigenmitteln würde auch das Bespielen des digitalen Raums ermöglicht, beispielsweise Musiktutorials im Internet. Es ergeben sich zugleich viele kulturpolitische Gestaltungsfragen. Denkbar wäre, touristische Museumsbesuche weiterhin mit Eintritt zu belegen oder kulturelle Bildung im Ganztag in Form kommunaler Bildungslandschaften fest zu verankern. Insbesondere in Pandemie-Zeiten könnten Bibliotheken, Musikschulen oder Museen so einen zusätzlichen Raum für Schülerbegegnung und alternative Unterrichtsformen ermöglichen.

 

Eine Utopie? Unbezahlbar? Im Sinne einer Umweg-Rentabilität vielleicht nicht so unrealistisch, wenn die jetzigen Projektmittel wieder zur Infrastrukturförderung umgewandelt und somit, aufgrund des nicht mehr zu leistenden bürokratischen Aufwands, personelle Mittel frei würden. Im Gegenzug müssen natürlich Aufgaben des gesellschaftlichen Wandels selbstverständliche Pflicht öffentlich geförderter, kultureller Infrastruktur und interner Organisationsentwicklung sein.

 

Die kulturelle Daseinsvorsorge ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. Die zunehmende Ökonomisierung gesellschaftlicher Bereiche – und aktuell die Krise – haben viel erkämpfte Lebensqualität zerstört: Es ist die Zeit der Wiedergutmachung, Zukunft positiv, kulturell, sozial, nachhaltig und somit generationengerecht zu gestalten – es ist an der Zeit, einen längst überfälligen kulturpolitischen Diskurs zu führen!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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