„Wir müssen unsere Relevanz klarer behaupten“

Amelie Deuflhard im Gespräch

Ludwig Greven spricht mit der Intendantin der Hamburger Spielstätte Kampnagel für freie Kultur, Amelie Deuflhard, über Lehren aus dem Lockdown und wie Online-Angebote den Theatern neues Publikum verschaffen können.

 

Ludwig Greven: Kampnagel ist wie alle Bühnen seit November wieder dicht, wann es erneut losgehen kann, ist offen. Haben Sie sich an den Krisenmodus gewöhnt?

Amelie Deuflhard: Der erste Lockdown war ein Schock. Als der zweite kam, dachten wir, das können wir schon. Aber es geht jetzt in Richtung Depression wegen dieser langen zähen Ungewissheit. Das zieht meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Künstlerinnen und Künstler ganz schön runter. Von den Künstlerinnen und Künstlern sind praktisch alle, mit denen wir arbeiten, freischaffend. Bei ihnen geht es an die Existenz, zumindest haben sie existenzielle Sorgen. Die Corona-Hilfen fangen nicht alle auf, viele freie Künstler fallen durch das Raster, wenn sie noch jung sind, wenn sie erst vor Kurzem eingewandert sind oder wenn sie eine Fluchtgeschichte haben. Trotzdem leben wir in Deutschland immer noch auf der privilegierten Seite der Welt.

 

Was fehlt Ihnen selbst?

Am meisten fehlt mir das öffentliche Leben. Freunde kann man weiter sehen, einzeln. Aber ich bin normalerweise extrem viel unterwegs, fahre auf Festivals, zu Kongressen, politischen Tagungen. Ich treffe viele Menschen in der Welt, in der Stadt oder bei uns auf Kampnagel. Jeden Abend öffnen sich hier die Türen. Dass das alles fehlt, daran kann ich mich nur ungern gewöhnen. Aktuell machen wir viele Online-Veranstaltungen. Die haben eine sehr gute Resonanz, aber sie schaffen keine Live-Begegnung.

 

Was macht es mit den Künstlern, wenn sie nur virtuell auftreten können?

Einige entwickeln Ideen, wie sie trotzdem ihr Publikum erobern. Eine Band z. B. macht Konzerte in einem Bus, da darf immer ein Zuschauer rein. Die Wohnzimmerkonzerte nutzen sich allerdings ab. Viele Künstlerinnen und Künstler machen Streaming-Angebote. Auch wir entwickeln viele Dinge für die Zukunft, die auch oder nur digital nutzbar sind. Dennoch: Bühnenkünstler brauchen die reale Interaktion mit dem Publikum. Und auch für die Zuschauer ist es etwas anderes, im Theater oder

Konzertsaal zu sitzen oder sich zu Hause eine abgefilmte Aufführung anzusehen. Wobei das Live-Streaming gewissermaßen das neue Live ist. Allein die Vorstellung, dass das, was ich aufführe, in derselben Sekunde beim Zuschauer ankommt, erzeugt ein anderes Gefühl als bei einer Aufzeichnung. Trotzdem kann das die echte Aufführung nicht ersetzen.

 

Auch die Zuschauer bleiben alleine – die prägende Erfahrung in dieser Krise.

Wir Bühnen stehen in der Pandemie auf der Blacklist der besonders gefährlichen Orte ziemlich weit oben, obwohl Studien eher das Gegenteil belegen: Theater sind ziemlich sichere Orte. Aufführungen sind Versammlungen. Dort trifft man Menschen, die man kennt und die man nicht kennt. Das ist einer der Gründe, warum man zu Kulturveranstaltungen geht. Man verabredet sich und geht hinterher zusammen noch einen Wein trinken, um sich auszutauschen. Das fehlt total. Man sieht den Menschen an, dass sie zu einsam sind.

 

In Supermärkten dürfen sie sich treffen.

Es ist kontraproduktiv, einen Bereich gegen den anderen auszuspielen. Letztendlich haben wir alle gemeinsam ein Ziel – die Pandemie einzudämmen, und dafür sind eben auch Maßnahmen wie die Schließung von Veranstaltungsorten notwendig. Supermärkte sind keine Versammlungsorte. Versammlungen haben eine Kraft, etwas Subversives. Menschen kommen zusammen, debattieren, vielleicht nicht nur über die gesehene Aufführung, sondern auch über Politik. Viele Diktaturen sehen Kulturveranstaltungen deshalb als gefährlich an. Ich glaube nicht, dass das bei uns jemand aktiv denkt. Aber symbolpolitisch könnte es eine Rolle spielen.

 

Auch bei den Öffnungsplänen steht die Kultur hinten an. Geöffnet werden sollen die Bühnen erst, wenn alle Läden wieder offen sind.

Es nagt an den Kulturschaffenden, dass die Häuser, in denen sie auftreten, immer die ersten sind, die zugemacht, und die letzten, die wieder aufgemacht werden. Genauso wie die Aussage, dass wir nicht systemrelevant seien. Für mich ist es keine Frage, dass die Menschen Kultur genauso brauchen wie andere Sachen. Sich an Orten zu treffen und Dinge zu sehen, die unterhalten, die aufrütteln und aufklären über das, was in der Welt geschieht, das ist für mich absolut relevant und überlebensnotwendig. Künstler leisten wichtige Beiträge zu Diskursen. Sie sind unverzichtbar, gerade weil sie oft gesellschaftskritisch sind.

 

 

Wahrscheinlich ist genau das das Subversive der Kultur, dass sie nicht in eine Verwertungslogik passt, sondern einen Wert für sich hat.

Nicht jeder Künstler will das System verändern. Doch der interessante Punkt ist, ob die potenzielle Absicht, das System zu sprengen, systemrelevant sein kann. Dialektisch betrachtet, sind Menschen, die unser System infrage stellen, enorm wichtig. Wir brauchen Künstlerinnen und Künstler, die über andere Systeme nachdenken. Wir glauben, wir sind eine Kulturnation. Aber Kultur scheint weniger wichtig zu sein als Konsum. Im zweiten Lockdown blieben die Läden zunächst offen, um das Weihnachtsgeschäft zu retten, aber alle Kulturstätten wurden geschlossen. Am Ende hat beides nicht funktioniert. Weder wurde das Virus gestoppt noch der Kommerz gerettet.

Andererseits leiden auch andere extrem unter der Krise. Nehmen sich Kulturschaffende zu wichtig?

Die, die in der Kultur am meisten klagen, sind die, die ihre Privilegien nicht verloren haben. Den alleinigen Fokus, wir sind die Allerwichtigsten, uns darf man auf keinen Fall schließen, halte ich für falsch. Viele Menschen, nicht nur Künstler, haben gerade sehr reale Existenzängste. Am härtesten trifft es die, die ohnehin prekär leben, auch in der Kunst. Den festangestellten Darstellerinnen, Musikern, Tänzerinnen passiert erst mal nichts, außer dass ihre gewohnte künstlerische Tätigkeit eingeschränkt ist. Interessant finde ich die unterschiedlichen Wertigkeiten, die sich im zweiten Lockdown gezeigt haben. Zugesperrt wurde als Erstes das Vergnügen, das Sinnstiftende, die direkte Kommunikation. Der Konsum durfte erst mal weiterlaufen. Über diese Priorisierung sollten wir uns Gedanken machen, statt sie nur zu beklagen.

 

Wenn die Bühnen irgendwann wieder öffnen dürfen: Was wird von den Erfahrungen der Pandemie und dieser tiefen gesellschaftlichen Krise bleiben? Was kann, was muss man daraus lernen?

Ein wichtiger Teil wird sein, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir noch klarer unsere Relevanz behaupten können. Kulturschaffende haben sich lautstark über Schließungen beklagt, aber ich habe von keiner Bewegung von Zuschauerinnen und Zuschauern etwas mitbekommen, die gesagt haben, wir können ohne euch nicht leben.

 

Online schon.

Zum Glück, aber nicht für alle Menschen sind wir so wichtig, wie wir es gern wären. Das heißt, wir müssen noch genauer schauen, wie wir zukünftig auch für diejenigen relevant sein können, die nicht zum Stammpublikum der Hochkulturinstitutionen zählen. Nach dem ersten Lockdown war mein erster Gedanke: Wie können wir unsere Bedeutung als gesellschaftlicher Kulturort behaupten, wenn wir nicht mehr spielen und Publikum nicht direkt erreichen können? Wir machen inzwischen viele digitale Projekte, aber ohne unmittelbaren Austausch. Die Interaktion fehlt.

 

Das Virus mit seinen Mutanten wird bleiben. Es kann irgendwann die nächste Pandemie kommen. Werden Sie in Zukunft alle Aufführungen auch digital produzieren?

Nicht alle. Aber ganz sicher werden wir zukünftig auf die Möglichkeiten des Digitalen nicht mehr verzichten. Unser Programm ist online auch für diejenigen zugänglich, die uns analog aus unterschiedlichen Gründen nicht besuchen können, und schafft so eine große, auch internationale Reichweite. Im Februar findet unser Festival FOKUS TANZ statt, das sich mit dem Genre Videotanz beschäftigt – also Tanz explizit für die Kamera und nicht für die Bühne. Damit beschäftigen sich Choreografinnen und Choreografen eigentlich schon, seitdem es den Film gibt. Aber ich denke, viele Künstlerinnen und Künstler werden generell ganz anders über Aufzeichnungen ihrer Arbeiten nachdenken. Wie macht man die so, dass es quasi zum künstlerischen Stilmittel wird? Ich habe selbst in den vergangenen Monaten auch sehr viel über digitale Zukunftstools gelernt und wie wir die in unserem Programm nutzen können. Wir haben eine App entwickelt, mit der man sich auf einem Spaziergang rund ums Kampnagel-Gelände Augmented-Reality-Videos anschauen kann, die per Bilderkennung an markierten Punkten auf dem Handybildschirm aufpoppen. Das Publikum ist also wieder vor Ort und hat die Bühne buchstäblich in der Hand.

 

Live-Auftritte haben dennoch eine andere Ausdrucksstärke und Präsenz, sie sind im Grunde jeweils ein Unikat. Geht das nicht verloren, wenn man alles auch als Konserve produziert?

Es wäre ein attraktiver Gedanke, die Live-Auftritte jeden Abend neu aufzuzeichnen, um sie parallel zu streamen, aber das wäre natürlich ein ungeheurer Aufwand. Das wird keiner machen, schon gar nicht in Krisenzeiten, wo uns praktisch alle Einnahmen fehlen. Niemand will mittelfristig das Live-Erlebnis ersetzen, aber die digitale Bühne erreicht auch ein neues Publikum. Menschen z. B., die in anderen Städten wohnen und nicht extra anreisen wollen oder können, Menschen, die krank sind, eine Behinderung haben, jemanden pflegen, die keine Zeit haben und viele andere mehr. Die können sich unsere Programme dann anschauen, wann es ihnen am besten passt. Aber die Akteure auf der Bühne brauchen weiter die vierte Wand, das Publikum und dessen unmittelbare Reaktion, und die Zuschauer die Begegnung nach der Vorstellung im Foyer oder im Restaurant. Beides ist unersetzlich. Das fehlt auch mir viel mehr als z. B. das Reisen.

 

 

Die Krise fördert die soziale Ungleichheit. Digitale Kulturangebote, die umsonst sind oder deutlich weniger kosten als der normale Eintritt, ermöglichen dagegen Menschen, die es sich sonst nicht leisten können oder wollen, den Zugang. Hoffen Sie auch dadurch auf neue Publika?

Ja. Wenn unser Programm im Internet zugänglich ist, können es selbst Menschen auf anderen Kontinenten sehen. Bislang hat man international immer nur an Tourneen gedacht. Kulturinstitutionen aus aller Welt könnten auch kooperieren, indem sie gegenseitig ihre Programme auf den jeweiligen Webseiten zugänglich machen und so quasi digitale Gastspiele ermöglichen.

 

Aber dann braucht niemand mehr hinzugehen.

Ich bin überzeugt, dass wir uns damit nicht abschaffen. Wenn man die Digitalisierung der Kultur innovativ und gut betreibt, wird das nicht die Theater, Konzert-, Ballett- und Opernhäuser sterben lassen. Das Fernsehen hat ja auch nicht die Kinos abgelöst und die Schallplatte nicht Konzerte überflüssig gemacht. Im Gegenteil schafft es zusätzliche Publika. Bei einem virtuellen Gemeinschaftsprojekt hatten wir Zuschauer in 40 Städten. Das hätten wir sonst nie.

 

Wann rechnen Sie wieder mit vollen Sälen, wenn Sie öffnen dürfen?

Das wird länger dauern. Im vergangenen Sommer war selbst das Viertel der Plätze, das wir belegen durften, gerade so besetzt. Die Verunsicherung und die Angst sind groß. Wir haben aber auch viele Veranstaltungen Open Air auf unserem Außengelände angeboten, da war der Andrang riesig. Das planen wir auch in diesem Jahr.

 

Arbeiten Sie und Ihr Team daran, die Corona-Zeit künstlerisch zu verarbeiten?

Natürlich. Die Künstler, mit denen wir arbeiten, sehen das allerdings unterschiedlich. Manche wollen von Corona nichts mehr wissen, die haben keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Andere sagen, wir können uns gar nichts anderes vorstellen. Oft wird es eher subkutan in Stücke und Aufführungen einfließen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Amelie Deuflhard & Ludwig Greven
Amelie Deuflhard ist Intendantin des internationalen Produktionshauses Kampnagel in Hamburg. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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