Was ist uns Literatur wert?

Nina George im Gespräch

 

Wie ist die Umsetzung bisher gelaufen?
Wir haben bisher 234 Autorinnen und Autoren, Übersetzer, Illustratorinnen gefördert – viele bereits zwei- oder dreimal, und 174 Buchhandlungen, drei Dutzend davon mehrmals. Wenn die Taktung so weitergeht, haben wir Mitte September unsere anvisierten 430 bis 460 Veranstaltungen möglich gemacht. Wie schrieb es eine Buchhändlerin: „Sie machen Mut, gerade uns kleinen Buchhandlungen, wieder Kulturinseln zu schaffen“. Wir nehmen folglich gern noch Spenden an.

 

Was ist noch dringend zu tun, um die vielfältige Buchbranche in Deutschland weitergehender zu unterstützen und zu erhalten?
Wir müssen darüber sprechen, was uns Literatur grundsätzlich wert ist. Dabei denke ich zunächst an die digitalen Vertriebs- und Umsatzmodelle; wir haben einen Anstieg der elektronischen Leselust während der Pandemie beobachtet, durch Zulauf zu Flatrate-Modellen, zur elektronischen Ausleihe, zu Piraterie – und vergleichsweise gering im Kaufmarkt. Diese fragmentierten, niedrigen Erlöse waren vor der Pandemie schon, freundlich gesagt, überschaubar und ersetzen den Verlust im Printmarkt nicht. Die Buchbranche muss sich kritisch selbst betrachten, ob sie weiterhin Flatrate- oder Null-Euro-Promotion-Angebote anbieten möchte, die teilweise auch als Panikreaktion auf das Buchbranchenkarussell resultierten. Das Tempo im Markt hat sich unglaublich erhöht: Inzwischen sind es nur drei bis sechs Wochen, in denen sich ein Buch etabliert haben muss, sonst geht es direkt wieder runter von den Tischen. Wollen wir als Buchbranche so weitermachen, mit Dumping im Digitalen, der kannibalistischen Bedienung eines überdrehten Printmarktes, und dann noch ohne gemeinsame Vergütungsregeln? Ich hoffe sehr auf eine autorenfreundliche Neujustierung in dieser Zäsur.
Wir müssen zudem eine Priorität auf Leseförderung setzen, und auch die Instrumente dazu couragiert weiterentwickeln. Das ist sicherlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die man nicht mal eben mit einer Werbekampagne lösen kann. Da muss man an verschiedenen Punkten ansetzen: Bringt die Bücher in jede Familie, bringt Autorinnen in die Schulen, und bringt das „Zielgruppen“-Denken auf Realitätsfaktor 2020. Wo sind Bücher für türkischsprachige Kinder, für syrische, englischsprachige? Eine Langzeitaufgabe ist auch die Haltung, wie wir mit Kunst- und Kulturschaffenden in Deutschland umgehen. In den nächsten 20 Jahren müssen wir uns darum kümmern, Wertschätzung herzustellen. Ein Blick nach Frankreich würde dabei nicht schaden.

 

Wenn wir über Frankreich hinaus zu den europäischen Nachbarn blicken. Wie ist die Situation?
Als European Writers‘ Council haben wir die ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Autorinnen und Übersetzer im europäischen Buchsektor in einer Umfrage in 24 Ländern untersucht. Dabei wurde deutlich, dass die Situation im östlichen und südlichen Europa dramatischer ist. Dort gibt es zumeist keine Hilfsprogramme. In Skandinavien gibt es teilweise andere Systeme, die Freiberufler zugewandter auffangen. In Norwegen hat der Staat anlässlich der Schließungen von Bibliotheken den Etat zum Ankauf und Vertrieb von E-Books in der elektronischen Leihe erhöht. Davon haben Autorinnen, Verlage und Leserinnen etwas. In Italien wurde beschlossen, in 2020 rund 28.000 Originaltitel weniger zu publizieren, gleichzeitig wurde im März ein Gesetz zur Förderung des Lesens und der Literatur erlassen. Das nenne ich Entscheidungskraft. In Frankreich gibt es ein kleines Staatsprogramm für Autorinnen und Autoren, die sich für einen monatlichen Zuschuss zwischen 400 Euro bis 1.000 Euro bewerben können.

 

Was bedeutet das Geschilderte in der Konsequenz für den europäischen Buchmarkt?
Es gibt Schätzungen der Federation of European Publishers (FEP), dass sich der europäische Buchmarkt in zwei bis schlimmstenfalls fünf Jahren wieder erholen wird und der Stand von 2019 wiederhergestellt ist. Wir haben sonst jährlich 600.000 Neuerscheinungen in ganz Europa – und Deutschland ist „Einkaufsland“, viele unserer Kolleginnen verdienen hier mit Lizenzen mehr als in ihren Heimatländern. En gros werden wir in Europa 100.000 bis 150.000 weniger Originaltitel veröffentlichen.
Da stehen auch jeweils 150.000 verlorene Existenzen dahinter.
Wir benötigen einen europaweiten Buch- und Bildungspakt. Während der Pandemie wurde deutlich, wie anfällig der Mensch ist, märchenhaften Theorien mehr zu trauen als unabhängigen Medien und der Wissenschaft. Dem müssen wir entgegensteuern.
Ich möchte uns nicht romantisieren, doch mit einer Hoffnung enden: Autorinnen und Autoren sind resilient. Wir bleiben an unserer Auf-gabe: die Welt anders zu erzählen als es Nachrichten oder Twitter tun. Andere Liebe, anderer Hass; Resonanzräume schaffen, von den Brüchen, Nöten und Wundern berichten, die der Mensch braucht, um zu wissen, wer er sein kann. Wir schreiben folglich weiter.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Nina George & Theresa Brüheim
Nina George ist Schriftstellerin, Vorstandsmitglied des Fördervereins Buch und Präsidentin des European Writers‘ Council. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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