Warum nicht zwei Schritte nach vorn?

Ein Plädoyer für eine europäische Öffentlichkeit

 

Daher gilt es nun, Künstlerinnen und Künstler, Kreative und Kulturschaffende vor den Folgen der Krise zu schützen. Denn sie sind von der Krise besonders stark betroffen. Theater, Galerien, Kinos und Clubs mussten bereits ganz zu Beginn der Krise schließen und können auch jetzt erst sehr langsam wieder öffnen. Für viele Künstlerinnen und Künstler ist das existenzbedrohend. Es ist daher richtig und wichtig, dass die Mitgliedstaaten, aber auch die EU-Kommission Maßnahmen und Programme aufgesetzt haben, um Kreativen und Kulturinstitutionen zu helfen.

 

Bei kurzfristigen Hilfen können wir es aber nicht bewenden lassen. Wir sollten nicht nur Hilfspakete schnüren, um die Folgen der Krise abzumildern, sondern Mittel bereitstellen, um etwas Neues zu schaffen, das den europäischen Gedanken, die Vision und die Erzählung eines solidarischen Europas stärkt. Wir brauchen gerade jetzt eine europäische Kulturpolitik, die in die Gesellschaften hineinwirkt; die eine Kultur fördert, die offen und einladend ist, die nicht national repräsentiert, sondern allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Und gesellschaftliche Teilhabe heißt hier: europäische Teilhabe.

 

Dazu ist es wichtig, den Austausch und die Netzwerkbildung von Künstlerinnen und Künstlern, Kreativen in Europa stärker zu unterstützen. Durch gemeinsames Arbeiten entstehen gemeinsame Ideen und Projekte. Fördervoraussetzung ist dabei stets die Beteiligung aus mehreren europäischen Ländern und die Breitenwirkung in die Gesellschaft hinein. Warum sollte es neben Mobilitätsstipendien für Studierende und Auszubildende nicht auch niedrigschwellige Austauschprogramme für Schauspieler, Regisseure und Bühnentechniker geben und auch im Programm „Creative Europe“ Mobilitätsmaßnahmen verstärkt werden?
Zudem ist es nötig, die kulturelle Infrastruktur Europas auszubauen, um Kunst, Kultur- und Kreativwirtschaft wie andere Wirtschaftsbranchen auch strukturell zu unterstützen. Wir brauchen mehr gemeinsame europäische Kunst- und Kulturproduktion.

 

Warum nicht versuchen, eine gesamteuropäische Medien- und Kommunikationsplattform aufzubauen? Ein Europa-Netflix-Sky-ARTE! Gerade auch der digitale Austausch in Europa braucht einen Schub. Corona hat viele kreative Ideen für digitale Kulturangebote freigesetzt, die auch in Zukunft das kulturelle Leben bereichern werden. Wir sollten jetzt dafür sorgen, dass sie über die Krise hinaus zu einer europäischen Öffentlichkeit beitragen können. Dies umfasst den Ausbau digitaler Bürgerdialoge und Begegnungen, aber auch die Herausbildung einer europäischen Netzkultur, in der Bürgerinnen und Bürger, Netzakteure und Kunstszene miteinander im Austausch stehen. Dazu gehört auch, die digitale Resilienz Europas zu stärken, also die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaften gegenüber Desinformation.

 

Schließlich sollten wir den strategischen Ansatz der EU für die internationalen Kulturbeziehungen ausbauen. Unser Ziel muss es sein, auch außereuropäisch Partner zu unterstützen und das gesellschaftspolitische Bild eines gemeinsamen und solidarischen und weltoffenen Europas in der Welt zu vermitteln. Mit der im Aachener Vertrag beschlossenen Gründung integrierter deutsch-französischer Kulturinstitute gibt es bereits einen Nukleus für eine vertiefte kulturelle Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb Europas, die wir weiter ausbauen sollten. Warum nicht mit dem ersten gemeinsamen digitalen europäischen Kulturinstitut vorangehen?

 

Im Zentrum des Kulturprogramms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft steht das Kunstwerk „Earth Speakr“ des dänisch-isländischen Künstlers Ólafur Elíasson, das die Stimmen junger Menschen wie ein Verstärker in ganz Europa hörbar machen will. Wenn wir aufmerksam sind, erkennen wir darin einen Blick in die Zukunft Europas und etwas davon, was Kunst beitragen kann, um einen europäischen Öffentlichkeits- und Kulturraum zu schaffen.

 

Wir können uns jetzt von unseren 27 nationalen Hügeln hinabwagen und nach der Phase der schmerzhaften Grenzschließungen umso entschlossener nach vorn gehen. Dann kann es uns gelingen, dass Stefan Zweigs Vortrag tatsächlich wie das wirkt, was er ist: ein Bericht aus einem anderen Jahrhundert. Warum eigentlich nicht?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.

Michelle Müntefering
Michelle Müntefering, MdB ist Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt.
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