Verstaatlichung?

Zum krisenbedingten Eingriff des Staates in Kirche und Kultur

Eine unerwünschte Nebenwirkung der Coronakrise ist bisher noch nicht angemessen diskutiert worden. Vielleicht, weil sie nicht so deutlich vor Augen liegt oder zur spontanen Empörung einlädt. Dabei könnte sie zu erheblichen Langzeitschäden führen. Sie betrifft die Kultur ebenso wie die Kirchen. Es geht um die krisenbedingte „Verstaatlichung“ von Lebensbereichen, denen an einer Distanz zum Staat gelegen sein sollte.

 

Obwohl, diese Frage ist mir schon mit einer gewissen Verärgerung von Menschen gestellt worden, die meiner Kirche eigentlich wohlgesonnen sind. Wie könne es sein, dass unsere Kirche so widerstandslos das staatliche Gottesdienstverbot akzeptiert habe – in einigen Landeskirchen sogar vor dessen offizieller Verkündung? Warum hätten die Kirchenleitungen nicht härter dagegen gekämpft? Zeige sich darin nicht die alte Obrigkeitshörigkeit des deutschen Protestantismus? Freiwillig verzichte man auf etwas, das einem heilig sein sollte, nur weil der Staat dies fordere? Ich versuchte zu erklären: Die damalige Entscheidung sei epidemiologisch richtig gewesen; es gehöre zu unserem Glauben, dass wir auf die Stimme der Vernunft hörten; meine Kirche arbeite bewusst im Rahmen des Rechtsstaates; aber wichtiger noch, wir sähen uns als Teil dieser Gesellschaft und beanspruchten keine Sonderrechte, die uns von Partner-Institutionen wie Schulen, Vereinen und Kultureinrichtungen abheben würden. Eine schlüssige Erklärung, wie ich immer noch finde.

 

Aber die Verstörung bei meinen Gesprächspartnern konnte sie nicht wegerklären. Ich finde die damaligen Entscheidungen und heutigen Beschränkungen beim Gottesdienstfeiern immer noch korrekt, trotzdem denke ich inzwischen, dass ein Wahrheitsmoment in der Kritik steckt. Als Kirche pflegen wir ein gutes Verhältnis zur öffentlichen Verwaltung und vielen Regierungsrepräsentanten. Das ist ein hohes Gut, wie sich in einer solchen Krise zeigt: Da steht man zusammen, arbeitet Hand in Hand. Aber übertreiben wir es nicht manchmal mit der Nähe? Wenn die Krise nachlässt jedenfalls, sollte man wieder etwas Abstand voneinander nehmen. Doch wie wird es werden, wenn meine Kirche weiter weniger wird – wie groß wird dann die Versuchung sein, bei allerlei Problemen den Schutz des Staates zu suchen?

 

Womit wir bei Kunst und Kultur in Corona-Zeiten wären. Auch sie sind von einer plötzlichen „Verstaatlichung“ erfasst worden. Natürlich diente dies ihrer Rettung aus höchster Not. Ein Staat, der sich als Kultur- und Sozialstaat versteht, kann nicht lediglich auf einen Schlag öffentliche Kulturveranstaltungen untersagen. Er muss auch eine Idee entwickeln, wie Kulturschaffende diese epochale Krise überstehen. Es nötigt mir höchsten Respekt ab, wie ein „Kulturinfrastrukturfonds“ – zusätzlich zu all den sonstigen Förderungen – politisch durchgesetzt, mit einer Milliarde Euro bestückt und administrativ auf den Weg gebracht werden konnte. Wir können froh sein, dass unser Staat dazu bereit und fähig ist.

 

Und doch, ein leises Unbehagen kann ich nicht unterdrücken. Es speist sich weniger aus der Sorge, diese Staatshilfe könnte nicht ausreichen und das Ende vieler nur um einige Wochen aufschieben. Es rührt daher, dass Kulturakteure, die bisher stets auf Distanz geachtet hatten, jetzt auch die Unterstützung des Staates suchen. Das will ich niemandem verdenken. Aber welche Macht gesteht man dem Staat dabei zu (und wie sehr überschätzt man dessen Möglichkeiten)? Sollen ab jetzt Bundes- und Landesregierungen bestimmen, was Kunst oder überlebensnotwendige Kultur ist? Und in welche offensichtlichen und verborgenen Abhängigkeiten begibt man sich da? Was wird man sich in Zukunft noch künstlerisch trauen oder mit Blick auf die schützende Hand der Obrigkeit unterlassen? Eigentlich müsste gelten: Für die Kultur ist nicht der Staat zuständig, sondern die Kultur selbst – oder die Gesellschaft, in der sie lebt. Doch die Gesellschaft hat bisher wenig geholfen. Nur ein Beispiel: Die vielen Spendenaufrufe zur Rettung dieser oder jener Kunst haben, wenn ich mich nicht täusche, kaum Resonanz gefunden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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