Über brandenburgische Alleenstraßen zu Kunst und Kultur

Die Parkplätze voll, eine lange Schlange vor der Kasse zum Schlossmuseum, einladende Plakate für Theater, Ausstellung und Volksfest. Viele Menschen tummeln sich in der kleinen Stadt im Brandenburgischen, Familien, Fahrradfahrer, Wassersportler, Motorradclubs, Wanderer. Auch hier gibt es Bratwürste, lieber noch Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl, Spreewälder Gurken, Teltower Rübchen, Kohlrouladen mit viel Kümmel, jede Menge Fisch, im Süden Plinsen aus Buchweizenmehl … – und natürlich überall Spargel, nicht nur aus Beelitz. Die Touristiker meinen, dass die meisten Freizeitler wegen des Restaurantbesuchs auf Reisen gehen. Selbstverständlich hält sich jeder Kulturarbeiter mit seiner Kunst für den wesentlichen Anziehungspunkt in der Region. Und schon tut sich die erste Differenz zwischen Tourismus und Kultur auf. Bisher konnten alle damit gut leben. Immer mehr kleine Kulturattraktionen entstanden, die durch ein vom Landtag Brandenburg beschlossenes Programm für regionale kulturelle Ankerpunkte gefördert werden sollten. Netzwerke überall, Lesungen in der Keramikwerkstatt, Musik an der Schleuse, Kino in der Kirche. Alles mit wenig Geld, daneben Theater- und Konzertbetriebe, Literaturhäuser, Museen, Gedenkstätten, Festivals, Denkmale und Weltkulturerbe in Potsdam Sanssouci und im Park und Schloss Branitz bei Fürst Pückler. Hotels und Pensionen, Gaststätten, Busunternehmer und viele kleine Boutiquen leben von den Gästen der Stadt und ihren Dörfern, vielerorts ist Kulturtourismus die wichtigste Steuereinnahme. Doch plötzlich wird ein Stecker gezogen, nichts geht mehr. Aber Kunst und Kultur in Brandenburg sind doch nicht einfach weg!

 

Tourismusexperten sprechen von Markenbildung, Erlebniswelten, Kommunikationsstrategien, Produktentwicklung. Professionelle Künstler möchten Kunst machen und davon leben. Alle Künstler, Profis wie Amateure, suchen Kontakt und Austausch mit ihrem Publikum. Gerade werden stufenweise Städtereisen und Landurlaube möglich, Schwimmbäder und Fitnesszentren dürfen wieder öffnen. Kultur nicht. Oft kommen die Besucher für einen Ausflugstag, um sich sportlich zu betätigen oder im Wald und am Wasser zu entschleunigen. Ohne Kultur. Das stimmt nicht ganz, denn die Museen laden schon – unter Infektionsschutzauflagen – zu Besuchen im Einbahnstraßensystem ein, aber es kommen wenige Gäste. Dass es so nicht sein muss, beweisen klug ausgedachte Infektionsschutzpapiere, die Musikschulen waren Vorbild. Gerade jetzt braucht Kultur die kulturtouristische Vermarktung, nur anders als bisher. Die strikte Einhaltung von Infektionsschutzmaßnahmen gehört zu den Werbeaussagen. Kulturtouristische Pläne sind zu entwickeln, der Situation angemessen und gemeinsam. Das setzt freilich die gesellschaftliche Übereinkunft voraus, dass kreative künstlerische Prozesse notwendig, systemrelevant und unverzichtbar sind. Es ist nicht nur die Zeit der Exekutive, es ist auch die der Reflexion, der Neuorientierung, der zukunftsweisenden Konzepte. Vor Kurzem noch galt der Diskurs dem Ende des Wirtschaftswachstums und Nachhaltigkeitsstrategien, jetzt hat ein Virus den Paradigmenwechsel eingeleitet. Die Krise ist eben doch eine Chance. Wenn Künstler und Kulturschaffende mit größter Selbstverständlichkeit in jeder Antragslyrik darauf verwiesen haben, dass Kunst und Kultur seismographisch den Zustand der Gesellschaft, Erlebtes, Erfahrenes widerspiegeln, sind sie jetzt – vielleicht mehr als zuvor – Teil dieser Gesellschaft. Es besteht die Chance auf eine neue inhaltliche und strukturelle Entwicklung der Kunst und Kultur – nachhaltig, grenzenlos, künstlerisch wertvoll. Die Themen liegen in der Luft, etwa Umdenken nach der Seuche, Werte und Unwerte, Leben und Überleben, Freiheit und Macht, Lebens- und Schaffenskrise, Demokratie und Diktatur, tödliches Virus, Lebensnachrichten in Zahlen und Diagrammen, Hilflosigkeit, Selbstüberwindung, Existenzangst, soziale Isolation, Alleinsein unter Vielen, Schutz für sich und andere, Maskengesichter … oder einfach nur die eine konkrete Idee, ganz offen. Ohne Thema.

 

Angenommen, die Tourismuswirtschaft legt für einen Moment ihre Marktforschung beiseite und bewirbt mutig künstlerische Konzepte, dann könnten folgende Vereinbarungen dabei herauskommen: Menschen brauchen besonders in Krisenzeiten Kunst und Kultur. Tourismus ist ein harter Wirtschaftsfaktor, Kultur ist ein harter Wirtschaftsfaktor. Kultur ist ein Thema des Tourismus und Tourismus ein Thema der Kultur – für alle kulturtouristischen Besucher und weil Touristiker und Kulturschaffende von ihrer Arbeit leben wollen.

 

Was bedeutet dies für die am stärksten von Corona betroffene Kunstsparte, die Musik? Unter den Bedingungen des Infektionsschutzes sind alle Veranstaltungen mit “Guckkasten-Sicht” zwischen Bühne und davorsitzendem größerem Publikum nicht oder nur schlecht möglich. Das betrifft insbesondere Konzerte im philharmonischen Gedanken des gemeinsamen Musizierens und Opernaufführungen sowie Tanz und Schauspiel, Musik mit besonderem Aerosolausstoß, z. B. Chormusik. Das Orchester-Repertoire von der Klassik bis in die Spätromantik muss zwangsläufig verschoben werden in Online-Systeme. Niemand braucht abgespeckte Konzertbesetzungen und Halbheiten – das Herunterbrechen von Besetzungen auf Notvarianten von Kunst, für die es keinen künstlerischen Grund gibt, notdürftige Auto-Kinovarianten von Aufführungen, wenn sie nicht für Autokino konzipiert sind. Unbezahlte Online-Konzerte, Balkonkonzerte, Straßenmusiken sind auf Dauer nicht gut, weil sie den Eindruck erwecken, alles ginge ohne Geld.

 

Als Musikwissenschaftlerin, Festivalleiterin und Dramaturgin weiß ich, dass es nichts hilft, von außen so viel an die Kunst heranzutragen. Aber wie wäre es, die Hygieneregeln zum Anlass zu nehmen für ein kreatives “trotzdem”? Möglich sind doch vielfältige Veranstaltungsformen in kleinen Besetzungen, die das Konzertpodium aufbrechen – wie es in der Musik bereits seit 100 Jahren erprobt wird –, z. B. Raumklangmusik, Wandelkonzerte, Klangstraßen, 1-zu-1-Konzerte, Dialoge live und Elektroakustik, Musizieren im Arena-Raum, interaktives Online-Musizieren, Musiker-Familienkonzerte, wiederholbare 10-Minuten-Performances als konzipierte Online-Projekte, multimediale Projekte mit vielen Akteuren verschiedener Kunstgenres, aber wenigen Ausführenden vor Ort … Aktion und Reaktion, These und Antithetik, barocke Musik mit Terrassendynamik und Echowirkungen – alle Musikrichtungen der alten und neuen Musik sowie solistische Darbietungen. Das ist ein großes Spektrum. Hundert kleine Veranstaltungen können besser sein als das Stadionkonzert mit 100 Lautsprechern. Dabei kann es ebenso humorvoll-spielerische und interaktive Elemente wie Tiefgang geben.

 

Genreübergreifende Musizierformen entwickeln sich weiter und Live-Musik von Mensch zu Mensch hat Konjunktur. Ein Künstler und Elektronik, um ihn herum im Kreis sitzend das Publikum im Abstand von 1,50 Meter ergäbe ein hübsches Bild aus Hubschrauberperspektive, andere Sichtweisen, neue Perspektiven. Das Publikum wird kommen, wenn das Angebot gut und gesundheitsvorsorgend sicher ist. Und der Tourismus profitiert davon.

 

Wie sieht es nun in Brandenburg aus, im Land der Alleenstraßen, Wälder und 3.000 Seen? Knapp 39 Millionen Euro Strukturhilfe können zur Unterstützung gemeinnütziger kommunaler Kultureinrichtungen und -vereine beantragt werden für 50 Prozent Erstattung der Einnahmeausfälle. Die institutionelle Förderung von Kultureinrichtungen und die bereits geplanten Projektförderungen werden fortgesetzt. Ein Mikro-stipendium in Höhe von 1.000 Euro für kleine künstlerische Projekte, das nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird, kann von 4.000 Künstlerinnen und Künstlern beantragt werden. Die generellen Eindämmungsverordnungen gelten bis Ende Juli, das macht 200 Euro Soforthilfe pro Monat. In einem offenen Brief beklagt der Verband Bildender Künstlerinnen und Künstler die Höhe des Stipendiums und die fehlende Härtefallregelung für Nicht-KSK-Mitglieder. Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder) hat Kurzarbeit. Kulturtourismus wird nicht mitgedacht. Kulturtouristische Betriebe gehören in das Landes-Wirtschaftsressort und können dort Soforthilfe beantragen.

 

Stadtverordnetenversammlungen beschließen, auf die Tourismusabgabe zu verzichten. Allerdings kann die Kommunalaufsicht bei bereits verhängter Haushaltssperre diese Beschlüsse kassieren. Der Deutsche Musikrat fordert die Länderparlamente auf, eine fünfjährige Verpflichtungsermächtigung zu beschließen, um die Finanzierung von Bildung und Kultur auch in Zukunft in der prozentualen Höhe der derzeitigen Haushaltsansätze zu gewährleisten. Sobald auch Länder in Haushaltssperren stecken, wird das schwierig. Solange Kultur freiwillige Pflichtausgabe ist, bleibt sie ein Spielball in Haushaltsverhandlungen der Kommunen und individuellen Programmauflagen der Länder.

 

Kultur und Tourismus sitzen in einem Boot. Beide haben Einnahmeausfälle, beide unterliegen komplizierten Förderrichtlinien, beide müssen sich für längere Zeit auf alternative Arbeitsformen einrichten. Für beide gelten gleichermaßen Infektionsschutzbedingungen, deren Gewährleistung durchaus mit Geld verbunden ist. Sicher ist aber, dass Touristen weiter durch brandenburgische Alleenstraßen fahren und Kultur aufsuchen werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Ulrike Liedtke
Ulrike Liedtke, MdL ist Präsidentin des Landtages Brandenburg und Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates.
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