Über brandenburgische Alleenstraßen zu Kunst und Kultur

 

Was bedeutet dies für die am stärksten von Corona betroffene Kunstsparte, die Musik? Unter den Bedingungen des Infektionsschutzes sind alle Veranstaltungen mit “Guckkasten-Sicht” zwischen Bühne und davorsitzendem größerem Publikum nicht oder nur schlecht möglich. Das betrifft insbesondere Konzerte im philharmonischen Gedanken des gemeinsamen Musizierens und Opernaufführungen sowie Tanz und Schauspiel, Musik mit besonderem Aerosolausstoß, z. B. Chormusik. Das Orchester-Repertoire von der Klassik bis in die Spätromantik muss zwangsläufig verschoben werden in Online-Systeme. Niemand braucht abgespeckte Konzertbesetzungen und Halbheiten – das Herunterbrechen von Besetzungen auf Notvarianten von Kunst, für die es keinen künstlerischen Grund gibt, notdürftige Auto-Kinovarianten von Aufführungen, wenn sie nicht für Autokino konzipiert sind. Unbezahlte Online-Konzerte, Balkonkonzerte, Straßenmusiken sind auf Dauer nicht gut, weil sie den Eindruck erwecken, alles ginge ohne Geld.

 

Als Musikwissenschaftlerin, Festivalleiterin und Dramaturgin weiß ich, dass es nichts hilft, von außen so viel an die Kunst heranzutragen. Aber wie wäre es, die Hygieneregeln zum Anlass zu nehmen für ein kreatives “trotzdem”? Möglich sind doch vielfältige Veranstaltungsformen in kleinen Besetzungen, die das Konzertpodium aufbrechen – wie es in der Musik bereits seit 100 Jahren erprobt wird –, z. B. Raumklangmusik, Wandelkonzerte, Klangstraßen, 1-zu-1-Konzerte, Dialoge live und Elektroakustik, Musizieren im Arena-Raum, interaktives Online-Musizieren, Musiker-Familienkonzerte, wiederholbare 10-Minuten-Performances als konzipierte Online-Projekte, multimediale Projekte mit vielen Akteuren verschiedener Kunstgenres, aber wenigen Ausführenden vor Ort … Aktion und Reaktion, These und Antithetik, barocke Musik mit Terrassendynamik und Echowirkungen – alle Musikrichtungen der alten und neuen Musik sowie solistische Darbietungen. Das ist ein großes Spektrum. Hundert kleine Veranstaltungen können besser sein als das Stadionkonzert mit 100 Lautsprechern. Dabei kann es ebenso humorvoll-spielerische und interaktive Elemente wie Tiefgang geben.

 

Genreübergreifende Musizierformen entwickeln sich weiter und Live-Musik von Mensch zu Mensch hat Konjunktur. Ein Künstler und Elektronik, um ihn herum im Kreis sitzend das Publikum im Abstand von 1,50 Meter ergäbe ein hübsches Bild aus Hubschrauberperspektive, andere Sichtweisen, neue Perspektiven. Das Publikum wird kommen, wenn das Angebot gut und gesundheitsvorsorgend sicher ist. Und der Tourismus profitiert davon.

 

Wie sieht es nun in Brandenburg aus, im Land der Alleenstraßen, Wälder und 3.000 Seen? Knapp 39 Millionen Euro Strukturhilfe können zur Unterstützung gemeinnütziger kommunaler Kultureinrichtungen und -vereine beantragt werden für 50 Prozent Erstattung der Einnahmeausfälle. Die institutionelle Förderung von Kultureinrichtungen und die bereits geplanten Projektförderungen werden fortgesetzt. Ein Mikro-stipendium in Höhe von 1.000 Euro für kleine künstlerische Projekte, das nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird, kann von 4.000 Künstlerinnen und Künstlern beantragt werden. Die generellen Eindämmungsverordnungen gelten bis Ende Juli, das macht 200 Euro Soforthilfe pro Monat. In einem offenen Brief beklagt der Verband Bildender Künstlerinnen und Künstler die Höhe des Stipendiums und die fehlende Härtefallregelung für Nicht-KSK-Mitglieder. Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder) hat Kurzarbeit. Kulturtourismus wird nicht mitgedacht. Kulturtouristische Betriebe gehören in das Landes-Wirtschaftsressort und können dort Soforthilfe beantragen.

 

Stadtverordnetenversammlungen beschließen, auf die Tourismusabgabe zu verzichten. Allerdings kann die Kommunalaufsicht bei bereits verhängter Haushaltssperre diese Beschlüsse kassieren. Der Deutsche Musikrat fordert die Länderparlamente auf, eine fünfjährige Verpflichtungsermächtigung zu beschließen, um die Finanzierung von Bildung und Kultur auch in Zukunft in der prozentualen Höhe der derzeitigen Haushaltsansätze zu gewährleisten. Sobald auch Länder in Haushaltssperren stecken, wird das schwierig. Solange Kultur freiwillige Pflichtausgabe ist, bleibt sie ein Spielball in Haushaltsverhandlungen der Kommunen und individuellen Programmauflagen der Länder.

 

Kultur und Tourismus sitzen in einem Boot. Beide haben Einnahmeausfälle, beide unterliegen komplizierten Förderrichtlinien, beide müssen sich für längere Zeit auf alternative Arbeitsformen einrichten. Für beide gelten gleichermaßen Infektionsschutzbedingungen, deren Gewährleistung durchaus mit Geld verbunden ist. Sicher ist aber, dass Touristen weiter durch brandenburgische Alleenstraßen fahren und Kultur aufsuchen werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Ulrike Liedtke
Ulrike Liedtke, MdL ist Präsidentin des Landtages Brandenburg und Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates.
Vorheriger ArtikelDie Theater brauchen jetzt Planungssicherheit
Nächster ArtikelWarten auf ….