Peter Lange - 30. Juni 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Tschechiens Kultur in schweren Wassern


Finanzielle Hilfe kommt nur mit großer Verzögerung an

Simona Tydlitatova arbeitet seit Mitte März an der Kasse eines Supermarkts in Prag. Eine befreundete Kollegin trägt Post aus; ein Kollege hat sich als Waldarbeiter verdingt. Alle drei sind freiberufliche Musiker und Mitglieder des „Collegium 1704“, eines unabhängigen und recht renommierten Kammerorchesters für Alte Musik in Prag. Als das tschechische Kulturleben am 10. März von der Regierung wegen der Corona-Pandemie schockgefroren wurde, hat die Geigerin Simona Tydlitatova nicht lange gefackelt. „Ich hatte null Einnahmen. Weil ich wusste, dass die Supermärkte nicht geschlossen würden und jede Hand gebrauchen konnten, habe ich mich entschieden, hier anzufangen.“

 

Das projektorientierte „Collegium 1704“ musste mit einer Ausnahme alle Konzerte bis September stornieren. Einige prominentere Künstler sind ins Internet abgewandert, verdienen aber mit ihren Aufführungen dort kaum Geld. Eine lange vorbereitete Ausstellung der beiden Maler und Grafiker Marek Dobes und Karel Aubrecht sollte exakt am 10. März eröffnet werden. Auch daraus wurde nichts. Das private Theater „Mir“, zu Deutsch „Frieden“, in Ostrava kämpft wie viele andere auch ums Überleben. Die Kultur in Tschechien ist wie überall vom Shutdown als Erstes und am längsten und deshalb besonders hart be- und getroffen.

 

Die Minderheitsregierung von Ministerpräsident Andrej Babis hat auf Initiative von Kulturminister Lubomir Zaoralek Mitte April ein Hilfsprogramm von umgerechnet 42 Millionen Euro beschlossen. 11 Millionen waren für 29 Kulturinstitutionen vorgesehen, die ganz oder teilweise vom Staat finanziert werden. Die haben zwar niemanden entlassen müssen und die Gehälter an ihre Festangestellten weitergezahlt, dafür haben sie aber nun große Löcher im Etat. Michael Medek, Marketingchef der Tschechischen Philharmonie, des Flaggschiffs der klassischen Musikkultur, rechnete nach dem Abbruch der Spielzeit mit einem Verlust von ca. 1,1 Millionen Euro. Das Nationaltheater mit seinen drei Häusern bezifferte die Verluste beim Ticketverkauf auf 5,2 Millionen Euro. 16 Millionen Euro aus dem auf zwei Monate konzipierten Hilfsprogramm waren für unabhängige Institutionen und freischaffende Künstler bestimmt. Die Krise dauert jedoch noch an, sodass in diesen Tagen ein zweites Programm auf den Weg gebracht wurde: Noch einmal umgerechnet 37 Millionen Euro für die freie Kultur und die Kreativwirtschaft. Allerdings: Die Gelder aus dem zweiten Programm werden frühestens im Juli fließen. Und das könnte für viele zu spät sein. Das ist ohnehin eine Klage, die aus allen Ecken zu hören ist: Die finanziellen Hilfen kommen gar nicht oder mit großer Verzögerung. Tschechien hat da offensichtlich in seiner Bürokratie ein Umsetzungsproblem. Eine private Initiative des Hornisten Radek Barborák hat 40.000 Euro zusammengebracht, mit denen 80 Musiker unterstützt wurden. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds hat kurzfristig 240.000 Euro für solche Kulturinstitutionen zur Verfügung gestellt, die besonders dem deutsch-tschechischen Dialog verpflichtet sind. Aber das sind natürlich nur Tropfen im Meer, wie man hier sagt. Schätzungsweise 20.000 Berufsmusiker haben laut einer von der Nachrichtenagentur CTK veröffentlichten Analyse drei Monate keine Auftritte und somit keine Einkünfte gehabt. Viele seien gezwungen, den Beruf ganz aufzugeben.

 

Kulturminister Zaoralek hat als Ziel ausgegeben, die kulturelle Infrastruktur zu retten. Ob das gelingt, ist noch nicht ausgemacht. Die kulturelle Szene in Tschechien ist immer noch recht kleinteilig und lebt mehr von Enthusiasmus und Engagement als vom Einkommen. Allein in Prag gibt es 57 Theater und 62 Kinos. In ganz Tschechien mit seinen 10,7 Millionen Einwohnern existieren über 2.000 Verlage, die mindestens ein Buch pro Jahr herausbringen. Finanzielle Polster haben die wenigsten. Monat für Monat sind nun die Fixkosten als Schulden aufgelaufen, sodass sich wohl erst im Herbst herausstellen wird, welche Flurschäden die Corona-Epidemie und die landesweite Quarantäne tatsächlich verursacht haben.

 

Aber nun sind fast alle Restriktionen aufgehoben. Die Tschechische Philharmonie wird die Sommerpause in diesem Jahr streichen. Mit 25 Konzerten – Solo-Rezitals und Kammermusik – erfüllt sie einerseits die Wünsche von Publikum und Musikern und verringert andererseits das Defizit ein wenig. Am 23. Juni hat im prachtvollen Smetana-Saal des „Obezni Dum“, des historischen Gemeindehauses von Prag, das – vielleicht europaweit – erste Sinfoniekonzert vor vollem Publikum stattgefunden. Das Sinfonieorchester der Stadt Prag (FOK), eines der Dickschiffe der klassischen Musikkultur, spielte unter seinem Chef Pietari Inkinen die „Finlandia“ von Sibelius und Dvoraks „Sinfonie aus der Neuen Welt“. Einzige Auflage: Mundschutz für die 1.000 Anwesenden. Das FOK hat als Erstes die Segel gesetzt und Fahrt aufgenommen in die coronabedrohte Zukunft. Die anderen Kulturinstitutionen, sofern sie nicht untergegangen sind, werden folgen. Aber wehe, wenn die zweite Welle kommt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.


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