Nutzen-Risiko-Abwägung

Psychische Folgen der Maßnahmen gegen Corona

Im Rahmen der Corona-Pandemie standen und stehen die Politiker vor der Aufgabe, auf unsicherer Datenbasis weitreichende, Leben und Tod der Bevölkerung betreffende Entscheidungen treffen zu müssen. Hauptziel dieser Maßnahmen war anfangs, das Infektionsgeschehen zu strecken – „flatten the curve“ –, um so zusätzliche Corona-Tote infolge einer Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Dies ist weitgehend gelungen und die bisherigen Corona-Toten sind trotz guter medizinischer Versorgung zu beklagen. Nun tritt als zweites Ziel der Zeitgewinn in den Vordergrund, da durch Impfungen und verbesserte Behandlungsmöglichkeiten nun viel Leid und Tod vermieden werden kann.

 

Anders als bisweilen formuliert wird, gibt es jedoch kein „auf Nummer sicher gehen“. Ein Arzt, der bei einer Nierenentzündung „auf Nummer sicher geht“, die Antibiotika sehr hoch dosiert, dabei aber die Leber schädigt, würde unverantwortlich handeln. Ebenso darf bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht durch eine Einengung der Sicht auf das Infektionsgeschehen die zentrale Frage nach der optimalen Balance zwischen Nutzen und Schaden der Maßnahmen ausgeblendet bleiben.

 

Im Folgenden soll zu dieser entscheidenden Frage als eine Facette die psychischen Folgen der Maßnahmen gegen Corona diskutiert werden:

Psychische Erkrankungen und auch die wegen ihrer Häufigkeit und Schwere bedeutsamste, die Depression, sind eigenständige Erkrankungen und weniger Folge äußerer Belastungen, als die meisten Menschen vermuten. Es ist deshalb aufgrund der Maßnahmen gegen Corona nicht mit einer massiven Zunahme depressiver Erkrankungen zu rechnen. Was jedoch Grund zu großer Sorge ist, das sind die Folgen für Menschen mit psychischen Erkrankungen und insbesondere Depressionen. Nach Ergebnissen einer eigenen repräsentativen Bevölkerungsbefragung im Juni/Juli 2020 mit 5.178 Erwachsenen gaben depressiv Erkrankte an, infolge der Maßnahmen gegen Corona sich vermehrt auch tagsüber ins Bett zurückzuziehen (48%), Schwierigkeiten zu haben, den Tag zu strukturieren (75%), vermehrt zu Grübeln (89%) und zudem sich weniger körperlich zu bewegen (80%). Alle diese Faktoren sind bekannt dafür, ganz spezifisch den Krankheitsverlauf bei Depressionen negativ zu beeinflussen. Noch gravierender ist jedoch, dass nach dieser Befragung ca. die Hälfte der depressiv Erkrankten angab, dass sich die Qualität ihrer medizinischen Versorgung deutlich verschlechtert habe. Stationäre Behandlungen wurden abgesagt, Ambulanzen haben den Betrieb heruntergefahren, Selbsthilfegruppen sind ausgefallen und verängstigte Patienten haben insbesondere im Rahmen des ersten Lockdowns Termine beim Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten abgesagt. Da Depressionen schwere Erkrankungen sind, die mit einer mittleren Reduktion der Lebenserwartung von zehn Jahren einhergehen, wird hierdurch ohne Zweifel sehr viel Leid und Tod verursacht. Auf negative Auswirkungen der Maßnahmen gegen Corona auf Menschen mit Suchtgefährdung, Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen kann hier nicht eingegangen werden.

 

Viele Menschen berichten zudem über psychische Folgen der Corona-Pandemie und der Maßnahmen dagegen, die nicht als krankhaft, sondern als normale menschliche Reaktionen auf die belastende Lebenssituation anzusehen sind. Selbst im Juni/Juli 2020, nach Beendigung des ersten Lockdowns, fühlten sich noch 68 Prozent der befragten Allgemeinbevölkerung bedrückt. Vermehrte depressive Symptome wie Ängste, Sorgen und Stress wurden in zahlreichen weiteren Befragungen berichtet. Besonders betroffen sind oft auch Kunst- und Kulturschaffende, die verzweifelt vor den Scherben ihrer beruflichen Lebensplanungen stehen. Eine im Dezember 2020/Januar 2021 im Rahmen einer Längsschnittstudie durchgeführte repräsentative Befragung von Kindern und Jugendlichen – COPSY-Studie, befragt wurden mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 17 Jahre sowie mehr als 1.600 Eltern – ergab bei einem hohen Anteil der Befragten Hinweise auf eine reduzierte Lebensqualität (> 70%), auf psychische Auffälligkeiten (ca. 30%) und auf eine massive Verschlechterung des Gesundheitsverhaltens – Ernährung, Sport. Zehnmal so viele Menschen wie vor der Pandemie machen überhaupt keinen Sport mehr. Besonders massiv betroffen sind die Kinder und Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen und mit Migrationshintergrund.

Ulrich Hegerl
Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und hat die Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe Universität Frankfurt am Main, inne.
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