Ludwig Greven - 28. April 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Nähe durch Distanz


Die Corona-Krise schärft den Blick dafür, was wichtig ist

Was wird von diesem abgrundtiefen Einschnitt im gesellschaftlichen Leben und in dem jedes Einzelnen bleiben, wenn die Krise irgendwann, vielleicht Ende 2021 oder später, wenn ein Impfstoff gefunden ist, vorbeigeht und der Alltag mit allen Freiheiten zurückkehrt? In meiner Kolumne in Politik & Kultur 4/20 habe ich versucht, eine optimistische Vision zu entwerfen für die Zeit und die Welt danach, die weniger an materiellen Dingen und Profitstreben, mehr an den Menschen ausgerichtet ist, die global und zugleich lokal und regional handelt, mit weniger Stress und Hektik, weniger technologiehörig, weniger vereinzelt. Ob das eintreten wird, weiß ich natürlich nicht. Das wird davon abhängen, ob sich Menschen dafür einsetzen, so wie sie jetzt füreinander einstehen. Aber ich hoffe darauf, dass sich zumindest die Richtung ein wenig ändert. Denn ich setze auf die Einsichtsfähigkeit des Menschen. Und Gelegenheit zu neuen Erkenntnissen und Erfahrungen boten und bieten uns der erzwungene Rückzug und das Leiden Unzähliger ja zur Genüge.

 

Sicher werden viele danach trachten, in ihr altes Leben zurückzukehren. Daran ist nichts Verwerfliches. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Aber er kann sich auch auf neue Gegebenheiten einstellen. Und Gutes bewahren, wenn sich die Bedingungen wieder ändern. Eine der wichtigsten Lehren für mich ist, wie wichtig Konzentration ist. „Minimal Music“ mag für viele anstrengend und monoton wirken, wie ein monochromes Bild oder ein Film, in dem so gut wie nichts passiert. Jeder braucht auch mal Zerstreuung, die ganze Buntheit des Lebens. Aber die Reduktion auf das Wesentliche, auf die Wahrheit hinter der Oberfläche, tut Kopf und Seele gut. Und macht sie frei.

 

Die von der Pandemie und den verantwortlich handelnden Politikern verlangten Beschränkungen haben zur Konzentration der unmittelbaren Kontakte geführt. Millionen waren und sind mit einmal auf ihr engstes Umfeld, ihre Partnerin, ihren Partner, ihre Familie oder auf sich selbst geworfen. Nicht jede, jeder kommt damit klar. Gewalttaten in Beziehungen und Familien haben zugenommen, ebenso Verzweiflung und Einsamkeit. Auch die Zahl der Suizide wird steigen, gerade bei Älteren.

 

Auf der Habenseite dieser Zeit der Prüfungen und Selbstprüfung steht auch bei mir das Erleben, dass man Nähe auch in Distanz zeigen und empfinden kann. Selten habe ich so viele Briefe – meist in digitaler Form – bekommen und geschrieben und lange tiefe Telefonate geführt. Zu einigen, zu denen ich lange keinen oder kaum Kontakt hatte, sind neue Brieffreundschaften entstanden, zu einer Jugendfreundin und einem fast 80-jährigen Vetter in den USA, der sich große Sorgen macht – nicht nur um seine angeschlagene Gesundheit, sondern noch mehr wegen Trump. So ist es bei mir zu einem schönen Ritual geworden, morgens und abends statt die neuesten, aber fast immer gleichen Meldungen zur Krise aller Krisen als Erstes diese Mails zu lesen und zu beantworten. Und mit Nachbarn einen Schwatz über den Gartenzaun oder auf der Straße zu halten, um mitzubekommen, wie es ihnen geht. Auch dabei entstehen manchmal tiefere Gespräche und Kontakte.

 

Wenn ich mit meinen erwachsenen Kindern nun mit Abstand spazieren gehe, würde ich sie gerne wie sonst in den Arm nehmen. Aber nimmt es etwas von unserer Nähe, dass das vorerst nicht angebracht ist? So geht es mir auch mit anderen Menschen, die ich im Moment gar nicht treffe. Nicht wenige kommen mir sogar umso näher, gerade weil wir nicht in einem Café, einem Restaurant, bei einer beruflichen Begegnung oder daheim zusammenhocken. Denn zu viel körperliche Nähe, zu häufige Kontakte, etwa bei der Arbeit, verstellen manchmal den Blick. Natürlich fehlt der Blickkontakt, den keine Videokonferenz, kein Skypegespräch ersetzen kann, und die Körpersprache. Aber Briefe und Mails oder Telefonate ohne direktes Gegenüber schaffen häufig mehr Konzentration, den Austausch wirklich wichtiger Gedanken, Erkenntnisse und Erlebnisse. So geht es mir jedenfalls.

 

Als kontaktfreudiger Rheinländer empfand ich, als ich vor 25 Jahren nach Hamburg zog, die meist größere persönliche Distanz im Norden anfangs befremdlich, wo es zumindest für Ältere schon ein Höchstmaß an Vertraulichkeit ist, jemanden mit Vornamen und Sie anzusprechen, und wo es zum guten Ton gehört, anderen nicht gleich die privatesten Geheimnisse anzuvertrauen. Aber bald habe ich gelernt, dass eine solche Halbdistanz oft beste Voraussetzung für wirkliche Nähe ist. Weil sie die Chance bietet, sich auch mal zurückzuziehen. Und nicht Nähe vortäuscht, wo keine ist.

 

Zur notwendigen Distanz gehört für mich Abstand zu sich selbst. Auch dafür bot und bietet die Krise gute Gelegenheit zu üben. Sich selbst nicht immerzu in den Vordergrund zu stellen, auf andere zu achten, eigene Interessen und Wünsche zurückzunehmen, damit es allen möglichst gut geht; sich selbst nicht immer zu ernst zu nehmen, auch in ernsten Zeiten zu lächeln und zu lachen, wenn es eigentlich nicht viel zu lachen gibt, auch über sich selbst: Das kann heilsam sein. Denn damit findet man zu sich selbst. Wenn davon etwas bleibt, genauso wie die angenehmen Abstandsregeln in den Geschäften und an den Kassen, wäre für mich schon einiges gewonnen.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


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