Gerhart R. Baum - 30. November 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Mut zur Zukunft


Die Kultur in der Coronakrise

Kunst ist kein beliebiges Freizeitvergnügen. Damit wird man dem Anspruch unseres Landes und unserer Verfassung, „Kulturstaat“ zu sein, nicht gerecht. Kultur ist Lebenselixier der Demokratie – in Diktaturen wird die Kunst unterdrückt, weil sie, wie Friedrich Schiller gesagt hat, „eine Tochter der Freiheit“ ist. Nicht wenige Menschen sind heute ängstlich und verunsichert und gehen irgendwelchen Rattenfängern auf den Leim. Kunst und Kultur geben Orientierung, sind anstößig und stoßen an, sind zukunftsorientiert und weltoffen. Gustave Flaubert hat es einmal wunderbar auf den Punkt gebracht mit den Worten, Kultur sei eine „subventionierte Revolte“. Wir brauchen sie. Gerade jetzt, wo wir sie vermissen, wird uns besonders bewusst, was sie bedeutet. Ich erinnere mich an die düstere Nachkriegszeit. Für viele Menschen, die frierend in ungeheizten Konzertsälen saßen, war sie „Seelentrost“.

 

Von den Folgen der Corona-Pandemie, einer Jahrhundert-Katastrophe, sind Kultureinrichtungen und Künstlerinnen und Künstler in hohem Maße betroffen. Besonders trifft es all diejenigen, die auf ein Publikum angewiesen sind – aber nicht nur diese. Die Einschränkungen der Spielstätten erfolgten von März bis heute in unterschiedlicher Form und Intensität. Ob diese Einschränkungen, vor allem die totale Schließung, zur Bekämpfung der Pandemie geboten ist, das ist umstritten. Zweifel sind erlaubt. Es gibt inzwischen noch überzeugendere Hygienekonzepte. Entscheidend ist aber offenbar das Ziel, Begegnungen von Menschen zu reduzieren. So verfahren auch unsere europäischen Nachbarstaaten und Staaten weltweit. Von Gerichten ist der Teil-Lockdown in Deutschland – auch im Hinblick auf die Kultur – bisher nicht aufgehoben worden.

 

In dieser Situation ist aus unserer Sicht, also aus Sicht der nordrhein-westfälischen Kulturverbände, Folgendes wichtig:
Es müssen kontinuierlich die Folgen benannt werden – die materiellen und die immateriellen. Und das muss auch öffentlich geschehen. Das ganze Netzwerk von Hilfen muss sichtbar gemacht werden, die genauen Kriterien im Hinblick auf ihre Wirksamkeit überprüft und der Kulturszene vermittelt werden. Der Kulturrat NRW bietet bereits seit April ein Beratungsprogramm an, das stark nachgefragt wird.

 

So sehr öffentliche Aufrufe prominenter Künstler helfen, umso ärgerlicher ist, wenn diese vom Stand der Dinge keine Kenntnis haben oder die vielfältigen Hilfsprogramme arrogant beiseitewischen. Manche Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Verordnungen machen sich überhaupt nicht die Mühe, das Netzwerk von Maßnahmen zu erkunden, mit denen die schwierige Situation der Kulturschaffenden abgefedert wird. Dann sollten sie sich nicht wundern, wenn die Vertreterinnen und Vertreter konkurrierender Politikbereiche künftig mit ihrer Zustimmung, der Kultur zu helfen, zurückhaltender sein werden.

 

Eine Reihe dieser Kritikerinnen und Kritiker aus dem Kulturbereich sollten sich auch von Selbstüberschätzung verabschieden. Ich habe als Kulturpolitiker jahrzehntelang für die Kultur auf allen staatlichen Ebenen gekämpft, aber immer im Bewusstsein, dass ich die Zustimmung der Mehrheit benötige. Um die muss man werben. Ich habe den Eindruck, dass diese Kritiker gar nicht wissen, wie politische Entscheidungen in Parlamenten zustande kommen, und auch nicht bedenken, wie leicht entzündbar das Unbehagen eines Teils der Bevölkerung an bestimmten Formen – beispielsweise zeitgenössischer Kunst – ist. Dann heißt es schnell: „Wer das will, soll es gefälligst selbst bezahlen.“ So argumentiert auch die AfD. Sie führt einen Kulturkampf von rechts, der durchaus in bestimmten Bevölkerungskreisen Zuspruch erhält. Denn es ist nach wie vor eine Minderheit, die am Kulturleben teilnimmt. Der Einsatz für die Belange der Kulturschaffenden muss unbedingt in dem Bewusstsein geschehen, dass wir die Solidarität der Gesellschaft nur einfordern können, wenn wir selbst solidarisch sind. Es erschreckt mich, wenn eine prominente Intendantin von „autoritären“ Entscheidungen der Regierung spricht. Wir leben in einer funktionierenden Demokratie. Hüten wir uns also vor einer Selbstisolierung der Kultur. Um es deutlich zu sagen: Verantwortungsbewusstsein ist neben Freiheitsbewusstsein ebenso gefordert.

 

Die Unterstützungsprogramme

 

Nur zögerlich sind anfangs Hilfsprogramme in Gang gekommen, die die negativen Folgen der Corona-Pandemie abfedern sollen. Ich erinnere mich an zahlreiche Gespräche mit Olaf Zimmermann. Wie schwierig war es zunächst, so etwas wie das NEUSTART KULTUR-Programm in die Wege zu leiten, das sich schließlich als großer Erfolg entpuppt hat. Es ist inzwischen überzeichnet und muss aufgestockt werden. Die Kultur ist als einziger Politikbereich mit einem Sonderprogramm bedacht worden. Wie schwierig war es, die Wirtschaftspolitiker davon zu überzeugen, dass der Lebensunterhalt von Soloselbständigen in die Förderung einbezogen werden muss. Jetzt geschieht es immerhin unter anderem mit der „Neustarthilfe“ für das erste Halbjahr 2021, die bis zu 5.000 Euro beträgt. Das reicht nicht. Wir setzen uns jetzt dafür ein, dass das Land Nordrhein-Westfalen für 2021 weiterhin komplementäre Hilfe leistet, sowohl durch das Kulturministerium als auch durch das Wirtschaftsministerium. Sie wird notwendig sein.

 


Mit Kritik hat der Kulturrat NRW die Phase begleitet, in der die Bundesländer und der Bund die Verantwortung auf die jeweils andere Seite abschieben wollten. Beide sind gefordert. Sie müssen sich abstimmen und kooperieren. Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder sollten auch zu Entscheidungen ihrer Landesregierungen stehen. Manche tun gerade so, als seien sie in der Opposition.

 

Wir haben die Landesregierung in NRW bewegen können, das Stipendienprogramm mit 100 Millionen Euro – etwa 14.500 Künstlerinnen und Künstler erhielten schnell und unbürokratisch 7.000 Euro – und das Stärkungsprogramm für kulturelle Einrichtungen mit 85 Millionen Euro zu beschließen. Der normale Kulturhaushalt NRW ist in den letzten drei Jahren von 200 Millionen auf ca. 315 Millionen im nächsten Jahr angestiegen. Die Corona-Hilfen umfassen bis jetzt 220 Millionen, nicht gerechnet die umfangreichen Hilfen für den Kultursektor durch andere Ministerien, unter anderem durch das Wirtschaftsministerium.

 

Mit großer Sorge erfüllt mich die künftige Kulturfinanzierung durch die Kommunen, die in NRW ca. 80 Prozent der Gesamtförderung verantworten. Wenn sie nicht durch Bund und Länder weiter entlastet werden, wird die Kulturförderung leiden.

 

Corona hat Schwächen in unserem Sozialsystem sichtbar gemacht, die vorher nicht erkannt wurden. Ich meine die unzureichende soziale Absicherung der Selbständigen, also auch der Künstlerinnen und Künstler. Dem suchte die Politik auch durch Öffnung der Arbeitslosenversicherung gerecht zu werden. Doch diese war auf die künstlerspezifische Situation nicht eingestellt, trotz laufender Verbesserung der Zugangsbedingungen. Aber wir werden auf diese Hilfe nicht verzichten können. Diskutiert wird jetzt ein Bürgergeld für alle Soloselbständigen im Rahmen der Arbeitslosenversicherung. Die Künstlersozialversicherung, die in diesem Zusammenhang ebenfalls ins Gespräch gebracht wurde, ist dafür nicht das richtige Instrument.

 

Die Rolle der Verbände

 

Ohne das Drängen und ohne den kulturpolitischen Sachverstand der Verbände aller Sparten der Kultur wären diese Hilfsprogramme, jedenfalls in dieser Form und in dieser Dimension, nicht zustande gekommen. Wir erwarten kein Lob – wir erwarten Unterstützung! Und es genügt auch nicht, dass ein bestimmter Betrag zur Verfügung gestellt wird. Zum Problem wird die schnelle und unbürokratische Umsetzung sowie auch die Erarbeitung von Kriterien und die Beratung der Betroffenen. Dazu ist Sachverstand erforderlich und das kostet Kraft und Zeit.

 

Die Verbände könnten noch stärker werden, wenn es in jedem Bundesland einen Landeskulturrat geben würde, der die Interessen der verschiedenen Sparten neben den spezifischen Verbandsinteressen bündelte. Der Kulturrat NRW feiert 2021 sein 25-jähriges Jubiläum. Wir sind zu einem wichtigen kulturpolitischen Faktor der Landeskulturpolitik geworden und stehen in ständigem Kontakt mit allen Entscheidungsträgern. Wenn es gelingen sollte, diese Erfahrungen auf andere Länder zu übertragen, wäre es nur folgerichtig, die Landeskulturräte als unverzichtbares föderales Element auch im Deutschen Kulturrat in einer neuen Sektion zu verankern. Die enge Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturrat hat sich für uns als sehr fruchtbar erwiesen.

 

Die Zukunft der Kulturpolitik

 

Wir haben allen Anlass, über die Zukunft der Kulturpolitik nachzudenken. Das war schon vor Corona geboten, aber ist es jetzt umso mehr. Der Kulturrat NRW bereitet zurzeit für April eine Konferenz zu diesem Thema vor – gemeinsam mit dem Städtetag NRW und den beiden Kultursekretariaten sowie in engem Kontakt mit dem Deutschen Kulturrat.

 

Im Kern geht es darum, den Strukturwandel in der Gesellschaft zu analysieren und ihm gerecht zu werden. Dazu gehören auch die Erfahrungen, die während der Pandemie gewonnen wurden, also unter anderem die Erkenntnis, dass eine hinreichende Absicherung von Soloselbständigen fehlt. Wir werden uns mit den neuen Formen der Kulturproduktion, mit der Kulturvermittlung und mit der Reaktion des Publikums beschäftigen müssen, auch mit den Erfahrungen, die mit digitalen Dialog- und Vermittlungsformen gemacht wurden. Weitere Themen sind: die Kulturentwicklung in den urbanen und ländlichen Räumen, die Diversität, die Nachhaltigkeit, eine Auflösung der strikten Trennung zwischen Wirtschafts-und Kulturförderung und die Lage der freien Szene.

 

Die künftige Förderung muss Planungssicherheit gewährleisten – auch über die Jahreshaushalte hinaus. Sie muss von bürokratischem Ballast befreit werden. Im Laufe der Corona-Pandemie sind ja schon einige Hürden weggeräumt worden.

 

Offenbar gehen wir in düstere Monate. Sehen wir aber auch das Positive der Krise: Schon lange nicht mehr ist das Bewusstsein für die Bedeutung der Kultur so lebendig gewesen wie heute. Neue Energien wurden frei, neue Kreativität, neue Formate auch unter Nutzung des Digitalen, Experimentierlust, Selbstbehauptungswillen. Die Krise weckt auch Kräfte. Mut zur Zukunft – das ist das Gebot der Stunde.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.


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