Mit Wasserwerfern gegen die Pandemie

Corona-Management in Chile

Während effektivere Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung weiter auf sich warten ließen und Quarantänen nur zögerlich verhängt wurden, zeigten sich die Demonstranten einsichtiger. Sie zogen sich zurück, blieben zu Hause, die Straßen wurden leerer. Es war schlussendlich die Zivilgesellschaft, die die Maßnahmen ergriff, mit der die Politiker noch haderten. Während Mitte März das Bildungsministerium eine Schließung der Schulen und Hochschulen weiterhin nicht für nötig hielt, waren es die zumeist privaten Bildungsinstitutionen, die das Heft in die Hand nahmen. Noch bevor eine Schließung verfügt wurde, begannen die Universitäten und Schulen den Betrieb herunterzufahren und trugen dazu bei, dass die Zahlen nicht schon im März in die Höhe schnellten. In studentisch stark geprägten Städten wie Concepción mit seinen schätzungsweise 150.000 Studierenden kam mit der Schließung der Universitäten das öffentliche Leben fast automatisch zum Erliegen. Dass Concepción – immerhin die zweitgrößte Stadt des Landes – es bislang glimpflich und ohne Lockdown durch die Krise geschafft hat, ist möglicherweise auch auf das besonnene Handeln von Rektoren und Schuldirektoren zurückzuführen, die innerhalb kürzester Zeit und mit enormem Aufwand den Präsenzbetrieb einstellten und die Vorlesungen ins Internet verlegten.

 

Bis die Politiker nachzogen und auch die Schließung aller öffentlichen Schulen beschlossen, waren die Innenstädte bereits deutlich leerer geworden. Mit der Zeit wurden an der im Zuge des Volksaufstands zum „Platz der Würde“ umgetauften Plaza Italia, im Zentrum Santiagos, Graffiti, Schmierereien, jegliche Zeugnisse des Aufstands übermalt oder entfernt. Umgerissene Ampeln und Verkehrsschilder wurden wieder aufgestellt, das Denkmal des Nationalhelden General Baquedano strahlte in neuem Glanz. Anfang April, als die Aufräum- und Sanierungsarbeiten noch in vollem Gange waren, konnte Präsident Piñera bei einem spontanen Besuch, um den anwesenden Sicherheitskräften seine Anerkennung auszusprechen, der Versuchung nicht widerstehen, auf dem Platz für die Fotokameras zu posieren. Wo ein halbes Jahr vorher noch dichtgedrängte, fahnenschwenkende Menschen fotografische Motive hergaben, die um die Welt gingen, feierte der Präsident nun auf einem von der Pandemie leer gefegten Platz seinen Sieg, einen Sieg, den er der schwersten Gesundheitskrise der Geschichte des Landes zu verdanken hatte.

 

Dass Piñera mit seiner heroischen Selbstinszenierung bei einem Beliebtheitswert um die 10 Prozent eher Missfallen als Zustimmung ernten würde, wäre erwartbar gewesen. Mit seiner Geste reihte er sich in die Riege seiner Minister ein, die ihr mangelndes Feingespür für die Befindlichkeiten und Sehnsüchte der Bevölkerung mehrfach unter Beweis gestellt hatten, allen voran der ehemalige Wirtschaftsminister Juan Andrés Fontaine, der, als im Oktober 2019 erste Proteste gegen die Anhebung des Metro-Tarifs laut wurden, empfahl, einfach den günstigeren Tarif vor den Stoßzeiten zu nutzen. Oder der inzwischen ausgewechselte Gesundheitsminister Jaime Mañalich, der mit seiner erratischen Corona-Politik das Land zum globalen Hotspot werden ließ. Als die Infektionszahlen Mitte Mai in die Höhe schnellten und ein Großteil der Bevölkerung durch die ergriffenen Maßnahmen sich in existenzieller Not wiedersah, gestand Mañalich, er habe nicht gewusst, wie groß die Armut in den Randbezirken der Hauptstadt tatsächlich sei. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die ersten Corona-Proteste in den Vorstädten Santiagos entflammt, Proteste, die sich weniger gegen die Verhängung von Ausgangssperren richteten, sondern vielmehr gegen das Ausbleiben von Maßnahmen, um die wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie abzufedern. Die Folge waren erneut brennende Barrikaden und ein Wutgeschrei, das die Politik einmal mehr überhörte. Stattdessen wurden Panzerfahrzeuge und Wasserwerfer in die Vorstädte geschickt, um die aufkeimenden Proteste zu unterdrücken und einen erneuten Flächenbrand zu verhindern.

 

Auf einen Vorschlag der Opposition verabschiedete der chilenische Senat Ende Juli ein Gesetz, das bedürftigen Chilenen ermöglichen soll, auf 10 Prozent ihrer eingezahlten Rentenbeiträge zurückzugreifen. Möglich war dies allerdings nur, weil auch Mitglieder der konservativen Regierungskoalition für das Gesetz stimmten. Eine nachhaltige Lösung ist das mit Sicherheit nicht, denn jene 10 Prozent, die von der eigenen Rente abgerechnet werden, dürften in den meisten Fällen schon nach einigen Monaten aufgebraucht sein. Es ist zweifelsohne nur eine Notlösung, zu einer Zeit, da sich eine große Mehrheit weiterhin nach tiefgreifenden Reformen und sozialer Gerechtigkeit sehnt. Einen wichtigen symbolischen Schritt auf dem Weg dorthin könnte eine neue Verfassung darstellen. Doch ob das Referendum im Oktober stattfinden kann, ist nach wie vor ungewiss und hängt von dem weiteren Verlauf der Pandemie ab.

 

Nachdem das sogenannte 10-Prozent-Gesetz verabschiedet wurde, wechselte Piñera zum dritten Mal in seiner Amtszeit einige Schlüsselfiguren in seinem Kabinett aus. Unter anderem wurde der als gemäßigt geltende Innenminister Gonzalo Blumel, der im Oktober den umstrittenen Hardliner Andrés Chadwick ersetzt hatte, wiederum von einem Hardliner ersetzt. Von Victor Pérez, seinerzeit von Pinochet zum Bürgermeister der Stadt Los Angeles, im Süden Chiles, ernannt, und dem enge Verbindungen in die Sektensiedlung Colonia Dignidad nachgesagt werden, wird nun ein hartes Durchgreifen erwartet. Kurz nach seiner Ernennung reiste er in die seit Wochen von schweren Unruhen erschütterten Provinz Araucanía mit dem Versprechen, den sogenannten Mapuche-Konflikt zu entschärfen. Doch nicht nur im Süden Chiles, sondern im ganzen Land ist Pérez gewillt, eventuell aufflammende Proteste mit aller Entschlossenheit zu unterdrücken. Die Hotspots, die es vornehmlich zu bekämpfen gilt – auch das ist das Signal, das Piñera mit seiner jüngsten Umbildung des Kabinetts aussendet –, sind weniger die Corona-Hotspots als vielmehr das Aufflammen einer Protestbewegung, die weiterhin unter dem bekanntlich äußerst instabilen Erdmantel Chiles schwelt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Valeria Trincón
Valeria Trincón ist DAAD-Alumna und Lehrbeauftragte für Biochemie an der Universidad de Chile. Sie arbeitet für die journalistische Plattform Ciper.
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