Johann Hinrich Claussen - 26. Februar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Langersehnte Freude


Über die wohltuende Erfahrung eines Ausstellungsbesuchs

Ich war vor Kurzem in einer Ausstellung. – So fängt man normalerweise keinen Text an. Denn erstens beginnt man niemals auch nur irgendeinen Text mit dem Wörtchen „ich“, und zweitens ist dies ja eigentlich gar keine Nachricht. Aber dies sind eben keine normalen Zeiten – und wir sollten uns auch nicht daran gewöhnen. Deshalb ist es im Moment durchaus eine sensationelle Meldung, dass ausgerechnet ich, aber leider alle anderen nicht, in eine wunderschöne Kunstausstellung gehen durfte. Selbstverständlich hatte ich ernsthafte berufliche Gründe dafür, zudem wurden sämtliche denkbaren Hygienemaßregeln von uns eingehalten.

 

Da viele wahrscheinlich nicht mehr genau wissen, wie das so ist, wenn man sich eine Ausstellung anschaut, erzähle ich, was ich erleben konnte. In der Guardini-Stiftung am Anhalter Bahnhof, die mit staunenswerter Regelmäßigkeit und bei begrenzten Ressourcen Wunderbares möglich macht, ist zurzeit die Ausstellung „Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment“ von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich installiert. Aber leider nicht zu sehen. Obwohl, wenn man sich an den großen Fensterflächen im Erdgeschoss die Nase plattdrückt, kann man immerhin einen Eindruck gewinnen und erahnen, was einem da vorenthalten ist.

 

Ulrike Seyboth malt, und Ingo Fröhlich zeichnet. Beide sind miteinander verheiratet. Jeder hat ein eigenes Atelier, eigene künstlerische Themen und Aufgaben. Aber regelmäßig nutzen sie gemeinsame Arbeitsaufenthalte fern ihrer Heimat Berlin – in Frankreich, Italien, der Schweiz oder Brandenburg –, um in großer Nähe oder sogar im selben Raum zu arbeiten. Ich weiß von keinem anderen Künstlerpaar, dem so etwas möglich ist: wo nicht die eine dem anderen dient – so das übliche Modell in der klassischen Moderne – oder wo beide zu einem Projekt verschmolzen sind – wie bei Christo und Jeanne-Claude.

 

Nun haben sie gemeinsam mit der Kuratorin Frizzi Krella ausgewählte Arbeiten aus zehn Jahren in den klaren, offenen Räumen der Guardini-Stiftung aufgehängt. Manche der hellen, glühend roten Malereien von Ulrike Seyboth kannte ich schon. Aber nicht ihre Exkursionen ins Blaue und schon gar nicht ihre ganz neuen Collagen, in die sie zum Teil Stücke von verworfenen Gemälden hineingerettet hat. Von Ingo Fröhlich kannte ich einige der kleinen und größeren Bleistiftzeichnungen. Aber jetzt sah ich zum ersten Mal, wie er die Wände einer Galerie in eine Zeichnung verwandelt hatte. In die Bilder der einen wie des anderen kann ich mich versenken: in die Farbtupfer, -wolken und -ströme der einen und in die Linien, Wellen und Strudel des anderen. Hier aber konnte ich sie zusammenschauen, die eine und den anderen, mich von einem zum anderen führen lassen, Bezüge erahnen, ohne dass sie von einem Konzept vorgezeichnet wären, einem künstlerischen Gespräch ohne Worte zuhören. Als ich mich von den beiden verabschiedet hatte und wieder im bitteren Berliner Winter stand, merkte ich, wie gut mir dieser Besuch getan hatte, wie ich innerlich aufgetaut war.

 

Meines Glücks schäme ich mich keineswegs, aber einen Schmerz empfinde ich, dass bisher fast nur ich diese Ausstellung sehen konnte. Die Eröffnung war für Anfang Dezember geplant gewesen, Anfang März sollte Schluss sein. Danach soll es eigentlich nach Sens in Frankreich gehen. Doch die Türen blieben und bleiben geschlossen. Planungen wurden versucht und wieder verworfen. Es ging den beiden wie allen anderen Künstlern auch: so viel Schönes, so viel Arbeit, so viel Vergeblichkeit. Dabei gibt solch ein Ausstellungsbesuch eine lang ersehnte Freude, eine dringend benötigte Hoffnung, eine heilsame Erinnerung daran, warum das Leben sich lohnt – Empfindungen, die man braucht, wenn man eine lange Notzeit überstehen soll. Und dass sich ein solcher Besuch hygieneregelkonform gestalten ließe, dürfte doch längst klar sein.

 

Es ist dringend geboten, dass den Verantwortlichen mehr und anderes einfällt, als auf die Pandemie nur mit wieder und wieder verlängerten Verboten zu reagieren. Längst hat sich eine Einsamkeit und Traurigkeit über das Land gelegt, die Menschen auf andere Weise krank macht. Ich habe es kürzlich in einer Kirchengemeinde erlebt. Sie hatte zu einer musikalischen Abendandacht eingeladen. Die Kirche stand offen, die erlaubten Plätze war allesamt besetzt. Die Pastorin wusste, wie sie uns mit Worten aufhelfen konnte. Ein Geiger zeigte endlich wieder einmal, was er und was die Musik vermag. Da war plötzlich ein lange vermisster Zauber im Raum. Aber vorher und nachher bemerkte ich bei denen, die ich kannte und mit denen ich sprach, eine tiefe, dunkle Müdigkeit.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.


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