Oliver Scheytt - 30. November 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Kulturelle Infrastruktur im Zeichen von Corona


Zur Stillstellung der Kultur bei forciertem Betrieb

Staat und Gesellschaft, Institutionen und Systeme befinden sich in einem Ausnahmezustand. Die Auswirkungen der Pandemie auf die kulturelle Infrastruktur sind noch gar nicht vollends abzusehen, doch ist jetzt schon klar, dass wir unwiederbringlichen Verlusten ins Auge sehen müssen. Der einfache Satz: „In jeder Krise stecken auch Chancen“, erweist sich meist als richtig, doch bei allen Chancen, die die coronabedingte Digitalisierung für die weitere Entwicklung etwa auch mit Blick auf die Klimakrise mit sich bringt, müssen wir uns fragen, welche gesellschaftlichen Wirkungen das „Stillstellen der Kultur bei forciertem Betrieb“ hat. Erinnert sei zunächst an eine von der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ entwickelte grundlegende Idee und Denkfigur: Der Kulturstaat Deutschland basiert auf der „kulturellen Infrastruktur“. Deren Erhalt und Vitalität gehört zum Kern staatlicher Verantwortung für Kunst und Kultur.

 

Drei Sektoren – sehr unterschiedliche Folgen

 

Die kulturelle Infrastruktur besteht beileibe nicht nur aus öffentlichen Kulturinstitutionen, sondern auch aus privat-kommerziell ausgerichteten Kulturbetrieben, z. B. Privattheatern, Musicals, Filmwirtschaft, Kinos und den in diesen Strukturen wirkenden Künstlern und Kulturschaffenden – inzwischen bekannter unter der Bezeichnung „Soloselbständige“. Insgesamt haben in diesen Bereichen mehr als 1,5 Millionen Menschen ihr Ein- und Auskommen. Während die öffentlichen Kultureinrichtungen durch staatliche Zuschüsse sowie Kurzarbeit zumindest im Bestand gesichert sein dürften, sind die anderen Bereiche der kulturellen Infrastruktur derart massiv betroffen, dass kaum mehr vorstellbar ist, dass diese sich davon irgendwann erholen werden, bis auf wenige Ausnahmen. So addieren sich etwa die Verluste bei dem weltweit erfolgreichsten „stehenden“ Musicalbetrieb „Starlight-Express“ auf mehrere Millionen Euro, über 230 Beschäftigte sind seit März in Kurzarbeit, die Wieder-Inbetriebnahme würde mindestens 2 Millionen Euro Anlaufkosten verursachen und eine rentable Zuschauerzahl liegt bei deutlich mehr als 1.000. Immer mehr wird bewusst, dass der „Wirtschaftskreislauf“ in der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft dermaßen beeinträchtigt ist, dass staatliche Finanzhilfen die eintretenden Einnahmeverluste nicht annähernd ausgleichen können, da sich diese über den Zeitverlauf auf dreistellige Milliardensummen addieren würden.

 

Kunst und Kultur sind systemimmanent

 

Auch in diesem kurzen Einwurf kann keine Lösung für diese Katastrophe entwickelt werden, doch sei auf eine weitere grundlegende Themen- und Fragestellung hingewiesen, die in der öffentlichen Debatte stärker diskutiert werden müsste und auch eine Perspektive auf die gesellschaftlichen Folgen zu eröffnen sucht: Bisher stehen vor allem und durchaus zu Recht die Konsequenzen des Lockdowns für die Kulturschaffenden und -betriebe im Fokus. Dabei hat der Begriff „Systemrelevanz“ Konjunktur. Angebote von Kunst und Kultur sollen nach den jüngsten politischen Entscheidungen offensichtlich nicht in diese Kategorie gehören. Indes stellt sich die Frage, welches System jeweils angesprochen wird, für das etwas anderes relevant sein soll. Kunst und Kultur sind zwar letztlich nicht relevant für das reine „Überleben“. Sie sind aber systemimmanent für unser Leben schlechthin. Der Austausch von Bildern, Musik, Emotionen, die Begegnungen und das „Miteinander“ sind essenziell, machen das menschliche Leben aus.

 

Kunst und Kultur bieten Freiräume für die Entfaltung des Einzelnen und die Reflexion der die Gesellschaft verbindenden Werte. Oder wie es die UNESCO ausdrückt: Kultur kann „als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen“. In und durch die Kultur verhandelt die Gesellschaft ihre Regeln, wird sich der Einzelne seiner selbst bewusst. Um noch einmal die UNESCO zu zitieren: „Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl.“

 

Unsere Werte – Recht auf Freiheit! – Recht auf Risiko?

 

Angesichts dieses Textes frage ich nach den Werten, die das menschliche Zusammenleben prägen: Müssen wir nicht zu einer neuen Abwägung kommen zwischen der Freiheit von Kulturinstitutionen, Angebote zu machen, sowie der Freiheit des Einzelnen, diese wahrzunehmen, auf der einen Seite gegenüber der Sicherheit von Individuen und Gemeinschaften, die durch Regeln und systemische Eingriffe garantiert werden sollen, auf der anderen Seite. Alle Appelle der Politik zielen auf diesen einen Punkt: Es kommt auf die Haltung jedes Einzelnen an. Und uns ist bewusst: Ein Verhalten zu entwickeln und zu praktizieren, das auf einer klugen Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit basiert, ist nicht nur das Gebot der Stunde, sondern eine kontinuierliche Herausforderung. Doch gerade in und durch Kultur lernen wir, uns „regelrecht“ zu verhalten. Etwas banaler ausgedrückt: Wo sonst, wenn nicht in der Gemeinschaft können wir unser Verhalten einüben? Erst gemeinsam mit anderen lernen wir die „Begegnung auf Abstand“ und mit den gesundheitlichen Risiken richtig umzugehen.

 

Wenn wir also in und durch Kultur erkennen, wie wir die Rechte auf freiheitliche Entfaltung, das Recht auf Risiko und das Recht auf Sicherheit sowie Schutz vor gesundheitlichen Schäden in Einklang bringen können, dann bedarf es zwingend dieser öffentlichen Orte der Begegnung, der Reflexion und des Austausches, in denen erkannt, erörtert und erlebt werden kann, wie wir die Spannung zwischen individueller Freiheit und Beschränkung künftig gestalten wollen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Pandemie, sondern langfristig auch um letztlich ebenso bedrohliche globale Problematiken wie die des Klimawandels, zu deren Bewältigung es ebenfalls auf individuelles Verhalten in der Gemeinschaft ankommt.

 

Entscheidungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ethik

 

Die „Systemimmanenz“ von Kultur als Lebenselement erkennend, stellt sich daher die Grundsatzfrage: Ist es nicht gerade jetzt Aufgabe des Staates, den Kulturinstitutionen, den Kulturschaffenden und den Kulturbürgern die Freiheit und die Ermächtigung zu geben, je individuell die Abwägung zwischen Freiheit, Risiko und Sicherheitsgarantien eigenverantwortlich auszuüben, selbstredend unter Beachtung allgemein gültiger Regeln wie Hygienekonzepte, Abstand etc.? Warum werden dann Museen geschlossen, die sich wie kaum andere öffentliche Räume regulieren lassen und den sorgfältigen Umgang mit dem anderen – ob Mensch oder Objekt – lehren? Diese Maßnahme ist verfassungsrechtlich mehr als bedenklich, ja unverhältnismäßig, da sie Freiheitsrechte einschränkt, ohne dass damit nachweislich der gewünschte Effekt einer drastischen Reduzierung des Infektionsrisikos eintritt. Dass die Museumsschließung von der Kultusministerkonferenz in Verschärfung der von der Bundeskanzlerin moderierten Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wurde, zeigt wie stark inzwischen der Blick auf Zahlen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse – mit der Frage: Was ist das wissenschaftlich Richtige? – den Blick der Politik bestimmt, die vor allem auch danach fragen sollte: Was ist das ethisch Gute für die Gemeinschaft?

 

Leitlinie für kluge Regelungen sollte sein, dass Freiheit „richtig“ ausgeübt und gelebt werden kann, also bei gleichzeitiger Beachtung deren Grenzen, vor allem dann, wenn Gesundheit, Umwelt oder auch soziale Gerechtigkeit nachweislich gefährdet werden. Wird dies eine „Idealvorstellung“ bleiben oder wird die Pandemie der Anlass sein, unsere Werte und Ideale aufzugeben? Im Straßenverkehr haben wir solcherart Abwägung von individueller Freiheit und allgemeiner Sicherheit über ein Jahrhundert praktiziert, Regeln aufgestellt und eingeübt und damit Leib und Leben schützen gelernt. Im Umgang mit der Pandemie haben wir indes nicht mehr viel Zeit.

 

Digitalisierung stärkt den mentalen Kapitalismus

 

Wenn jetzt nicht ein strategisches Umdenken Platz greift, kann sehr rasch eine radikale Folge eintreten: Die kulturelle Infrastruktur wird nicht mehr lebensfähig sein. Und eine unerträgliche weitere Folge ist absehbar: Es werden diejenigen immer machtvoller werden, die die Knotenpunkte des mentalen und digitalen Kapitalismus im Internet beherrschen, weil sie das Individuum in den privaten Räumen digital noch intensiver beeinflussen können als je zuvor, gerade so wie sich das Virus jetzt privat viel schneller unkontrolliert verbreitet als in offenen hygieneregelgerechten Kultureinrichtungen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.


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