Jetzt mehr Kultur in Radio, TV und Co

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk strukturiert das Programm um

Für die Ausgabe 4/2020 von Politik & Kultur wurden alle Intendantinnen und Intendanten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angefragt. Alle abgedruckten sind der Anfrage nachgekommen und haben einen Beitrag verfasst.

 

BR

 

Es muss damals das gewesen sein, was man heute oft einen „Gänsehautmoment“ nennt: Als im Jahr 1517 zum wiederholten Male die Pest in der Stadt München wütete, beschlossen die Fassmacher, die „Schäffler“, die Münchner Bevölkerung mit einem Tanz zu erheitern – so die Legende. Die Menschen sahen die Tanzenden und fassten selbst Mut, wieder auf die Straße zu gehen. So entstand aus einem kulturellen Akt heraus, dem Tanz, nach langem Schrecken wieder öffentliches Leben. Und eine Tradition war geboren, der „Schäfflertanz“.

 

Die Frage, die mich umtreibt: Wann wird es wieder so sein, dass sich die Menschen nach Corona wieder auf die Straßen trauen und dem Beispiel der Schäffler von damals folgen? Ich hoffe sehr, dass diesem befreienden „Ausbruch“ aus der Quarantäne – wann auch immer er sein wird – dann ein „Aufbruch“ für den Kulturbetrieb in Deutschland und in Bayern folgt.

 

Doch vor dem Wunsch steht die Wirklichkeit für die Kulturschaffenden und -institutionen, zu denen ich ausdrücklich auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zählen möchte – mit seinen Klangkörpern, seiner Vielzahl an Produktionen, insbesondere in den Bereichen Fiktion, Dokumentarfilm, Literatur, Hörspiel und Medienkunst, mit seinen Kulturangeboten für Kinder sowie mit Kulturpartnerschaften in Stadt und Land. Auch den Bayerischen Rundfunk hat die Corona-Krise bereits schmerzlich getroffen: So mussten wir nach Auftreten erster Krankheitsfälle im Sender gleichsam über Nacht unsere Kulturwelle Bayern 2 mit unserer Infowelle B5 aktuell zusammenlegen, um den Sendebetrieb aufrechterhalten zu können. Und die Produktion unseres wöchentlichen Kulturmagazins „Capriccio“ im BR Fernsehen mussten wir vorübergehend einstellen.

 

Umgekehrt gesehen: Wir haben es geschafft, trotz aller von Corona verursachten Hürden, das Programm in weiten Teilen aufrechtzuerhalten, Highlights dieser Schätze aus Audio, Video und Online hat der BR für sein Publikum in der BR Mediathek und auf einer Sonderseite „Kultur & Corona“ zusammengestellt. Gleichzeitig schaffen wir auch Neues: Aktuell sind wir im Austausch mit uns besonders verbundenen Künstlerinnen und Künstlern, Verlagen und Institutionen in Bayern, die vorerst nicht mehr auftreten können, um ihnen im BR eine prominente, oft virtuelle Ersatzbühne zu bieten, vom täglichen „Corona-Tagebuch“ über Konzert-Streams bis hin zur Lesung von der Couch und Aufzeichnungen unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen. BR KLASSIK hat bereits herausragende Künstler gewonnen – darunter Weltstars wie Jonas Kaufmann oder Lang Lang unter dem Label #MusikBleibt. Ein positives Zeichen für gemeinsames Handeln trotz Distanz: Die Kultur- und Musikwelt lebt auch in der Isolation.
In dieser beispiellosen Situation, in der das Coronavirus das öffentliche Leben lahmlegt, wollen wir als öffentlich-rechtliche Programmmacher dazu beitragen, weiterhin so viel Kultur wie möglich für alle nach Hause zu bringen, das Kulturleben aufrecht zu erhalten und zu stärken. Sobald die Krise vorbei ist, möge es so sein, wie legendenhaft damals bei den Schäfflern im München des Jahres 1517 mit ihrem Tanz: Dass die Kunst und die Kultur die Menschen wieder in das öffentliche Leben zurückführen.

 

Reinhard Scolik, Fernsehdirektor des BR und ARD-Koordinator für Wissen, Kultur, Musik und Religion

 

Deutschlandradio

 

Wer hätte es noch vor wenigen Wochen gedacht, dass das reiche kulturelle Leben in Deutschland – wenn es auch vielleicht nicht ganz zum Erliegen kommt – aber doch für eine Zeit den Atem anhält? Dass es für Künstlerinnen und Künstler Realität wird, vor leeren Rängen aufzutreten, wenn die Veranstaltung überhaupt noch stattfinden kann? Mehr denn je sind in dieser Zeit die Medien gefordert, nicht nur relevante und verifizierte Informationen, sondern auch Kultur zu den Menschen zu bringen. Als Unterhaltung, als Zerstreuung, als Anregung, vielleicht auch als Trost. Gerade der Hörfunk in seiner klassischen Form und Qualität, aber inzwischen auch mit den neuen Möglichkeiten, die das Internet bietet, kann nun zeigen, dass er ein Medium ist, das Menschen eng verbindet.

 

Deutschlandradio als nationaler Hörfunksender mit seinen Programmen Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova hat selbst frühzeitig bis Mitte Mai alle eigenen Veranstaltungen abgesagt oder ohne Publikum stattfinden lassen. Eine schmerzliche Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben.

 

Nachdem Deutschlandfunk Kultur bereits den Preis der Leipziger Buchmesse und den dreistündigen „Bücherfrühling“ von der Messe ins Radio geholt hat, werden auch weiterhin im laufenden Programm trotz geschlossener Veranstaltungsstätten viele aktuelle Kulturereignisse zu hören sein. Die Klangkörper der Rundfunk Orchester und Chöre GmbH, bei denen Deutschlandradio Hauptgesellschafter ist, dürfen bis voraussichtlich 19. April keine öffentlichen Auftritte absolvieren. Aufzeichnungen hochkarätiger Musikereignisse vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO), dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), dem Rundfunkchor Berlin und vom RIAS Kammerchor Berlin bleiben dafür weiterhin fester Bestandteil in den Programmen von Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk. Klassiker wie das „Raderbergkonzert“ im Deutschlandfunk und das „Debüt im Deutschlandfunk Kultur“, die normalerweise vor Publikum im Kammermusiksaal im Kölner Funkhaus bzw. in der Philharmonie in Berlin aufgezeichnet werden, realisieren wir fürs Erste als Studioaufzeichnungen. Zusätzlich zu diesen Konzerten wird in zahlreichen Sendungen verstärkt beleuchtet, welche Konsequenzen die Ausbreitung des Coronavirus für die Kulturlandschaft hat, aktuell und perspektivisch. Die Musikabteilung von Deutschlandfunk Kultur etwa plant für Anfang April eine ganze Woche lang kleine Ensembles einzuladen, um unkonventionelles Repertoire, mutige Zusammenstellungen und aufschlussreiche Musiker-Konstellationen aufzuzeichnen.

 

Anspruchsvolle Hörspiele und aufwendige Features sind seit Gründung der Programme von Deutschlandradio wichtiger und wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Angebots. Daran halten wir auch in diesen krisenhaften Zeiten fest, mehr noch: Wir bauen es aus. Das Hörspiel- und Featureportal von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur bietet mit „ZuhauseBleiben: Zeit für Hörspiel und Feature“ zusätzliche Dokus, Krimis, Literatur und Klangkunst zum Hören und zum Download. Auch die Kindersendung „Kakadu“ von Deutschlandfunk Kultur öffnet die Schatzkiste. Täglich gibt es online ein Hörspiel sowie die regelmäßigen Podcasts für junge Hörerinnen und Hörer, in denen erforscht und erklärt wird. Am 18. April startet das große Thomas-Pynchon-Hörspielprojekt, eine Koproduktion mit dem SWR: Erstmals wird die Hörspielfassung des Romans „Die Enden der Parabel“ im Radio zu hören sein. Im Deutschlandfunk beginnt die 14-stündige Produktion mit einer langen Hörspielnacht.

 

Jenseits davon greifen wir mit einem Sonderprogramm die aktuellen Entwicklungen auf. Wir müssen und wollen vor dem Hintergrund der Pandemie flexibel sein, aber unser kultureller Anspruch bleibt gleich: hoch und verlässlich, auch in Krisenzeiten.

 

Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios

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