Monika Grütters - 30. Juni 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Hier spielt die Zukunftsmusik!


Eine Milliarde für den „NEUSTART KULTUR“

„Zukunftsmusik“ nennen wir im Deutschen, was gegenwärtig nicht verwirklicht werden kann, aber als Möglichkeit verheißungsvoll klingt. Man braucht derzeit ein feines Gehör, um im Lärm der Gegenwart solche „Zukunftsmusik“ zu vernehmen. Corona beherrscht den Alltag. Ungewissheit, wie sich die Situation entwickelt, nährt Zukunftsängste. Selbst dort, wo sonst mit Leidenschaft Kultur gelebt und Zukunftsmusik gespielt wird, gibt im Moment der Infektionsschutz den Ton an. Konzertsäle, Opern, Musikclubs, Theater und andere Kulturorte sind im Stillstand. Sie alle holen uns in normalen Zeiten heraus aus dem Alltag, hinein in eine Welt der Möglichkeiten. Kunstwerke und Kulturorte schaffen Raum für Utopien – allein schon dadurch, dass sie Menschen über alle Grenzen hinweg verbinden.

 

In der Dunkelheit eines Kinosaals, im Bann des Bühnengeschehens erfahren wir, dass alles anders sein könnte, als wir es wahrnehmen. Und manchmal spüren wir lesend oder lauschend, mitfühlend und mitfiebernd die Sehnsucht nach einer besseren Welt, nach einem anderen Leben. Doch gleichzeitig scheint der Kunst und Kultur in diesen Corona-Zeiten genau das zum Verhängnis zu werden, was sie der Politik und Wirtschaft, der Sprache der Macht und des Geldes voraus hat: dass sie Menschen buchstäblich in Fühlung miteinander bringt. Solange Abstandhalten Bürgerpflicht in der Corona-Prävention ist, bleiben kulturelle Gemeinschaftserlebnisse in ausverkauften Sälen wirklichkeitsferne Wünsche – um nicht zu sagen: Zukunftsmusik …

 

Was das für Künstlerinnen und Künstler, für Kultureinrichtungen und Unternehmen der Kulturbranche bedeutet, weiß ich nicht zuletzt aus den unzähligen Telefongesprächen und Briefen, in denen Betroffene mir in den vergangenen Wochen ihre Situation geschildert haben. Ich kenne die Verzweiflung. Ich kann die Existenzangst nachempfinden. Ich leide selbst – als Mensch, als begeisterte Kulturliebhaberin und als Politikerin. Ich bin in tiefer Sorge auch um die kulturelle Vielfalt, die in Deutschland über Jahrzehnte gewachsen ist, übrigens nicht zuletzt dank einer staatlichen Kulturförderung, die weltweit ihresgleichen sucht. Und doch bin ich der Meinung, dass nicht Defätismus, sondern Pragmatismus in dieser Situation die erste Geige spielen muss.

 

Pragmatisch schauen, was geht: Künstlerinnen und Künstler und zahlreiche Kultureinrichtungen haben mit genau dieser Haltung und bewundernswerter Kreativität in den vergangenen Monaten die häusliche Isolation für viele Menschen erträglicher gemacht. Wohl nie zuvor bot das Internet Kulturgenuss in dieser Bandbreite und Qualität – vom Livestream-Konzert über Lesungen aus dem heimischen Wohnzimmer bis zum virtuellen Theaterabend. Über das analoge Stammpublikum hinaus dürfte dabei auch so mancher Online-Zufallsbesucher auf den Geschmack gekommen sein. Kunst jedenfalls erwies sich für viele Menschen einmal mehr als unverzichtbare Seelennahrung. Diese Wertschätzung wird sich, davon bin ich überzeugt, nach der Corona-Krise für Künstlerinnen und Künstler auszahlen. Der Hunger nach Kultur im öffentlichen Raum wird größer sein als je zuvor. Viele sehen jetzt, dass Kultur als Bildschirmerlebnis das Gemeinschaftserlebnis nicht ersetzen kann. Die Resonanz ist eben doch eine andere im öffentlichen Raum. Als Zuhörer und Zuschauer lauscht man konzentrierter, und mag die heimische Couch auch noch so bequem sein – beglückender ist es, Emotionen mit anderen zu teilen.

 

Schauen, was geht, und tun, was getan werden kann: Diese Haltung bestimmt auch den politischen Umgang mit der Corona-Krise und ihren Auswirkungen auf Kunst und Kultur. Aus anderen Ländern blickt man durchaus mit Neid auf den Rettungsschirm aus Soforthilfen, den die Bundesregierung in Deutschland für Selbständige und Kleinstunternehmen auch der Kultur- und Kreativbranche gespannt hat – über Unterstützungsprogramme der einzelnen Bundesländer hinaus, in deren Zuständigkeit die Kultur in Deutschland liegt. Er setzt sich im Wesentlichen aus fünf Bestandteilen zusammen.

 

Erstens: Den Lebensunterhalt soloselbständiger Kreativer sichern der erleichterte Zugang zu einer Grundsicherung mit deutlich verbesserten Leistungen sowie eine Regelung, die es Kultureinrichtungen erlaubt, Ausfallhonorare als Kompensation für entgangene Gagen zu zahlen.
Zweitens: Kulturelle Einrichtungen wie Theater können Angestellte dank der Flexibilisierung des Kurzarbeitergelds über Schließzeiten hinweg halten.

 

Drittens: Für Betriebskosten wurden Soforthilfen bereitgestellt, von denen z. B. Buchhandlungen sowie Kino- und Musikclubbetreiber genauso profitieren wie Künstler mit eigenem Atelier.

 

Viertens: Für gezielte Hilfsmaßnahmen zur Krisenbewältigung stehen Mittel aus meinem Kulturetat bereit, beispielsweise in einem Hilfsprogramm für freie Orchester und Ensembles oder in einem Sonderprogramm für coronabedingte Umbaumaßnahmen.

 

Fünftens: Die Gutscheinlösung als Ersatz für Tickets bei abgesagten Veranstaltungen trägt dazu bei, mit den Konzert- und Festivalveranstaltern einen weiteren Kulturbereich durch die Corona-Krise zu retten.

 

 

Zu diesen Maßnahmen kommt nun ein umfassendes „NEUSTART KULTUR-Programm“, mit dem ich den Kulturbetrieb und die kulturelle Infrastruktur unseres Landes nach der pandemiebedingten Auszeit wiederbeleben und dauerhaft erhalten will. Für diesen „Neustart“ steht aus dem Bundeskulturetat für dieses und das nächste Jahr insgesamt rund eine Milliarde Euro mehr für den Kulturbereich zur Verfügung. Das Programm ist bewusst vor allen Dingen auf die Infrastruktur ausgerichtet. Denn die Erhaltung der kulturellen Infrastruktur ist der Schlüssel, um Betriebsstätten, Arbeitsmöglichkeiten und damit Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch alle anderen im Kulturbereich Tätigen zu garantieren. Wenn die Infrastruktur wegbräche, gingen alle unsere Bemühungen um einzelne Kulturschaffende ins Leere.
Das Programm ruht auf fünf Säulen. Erstens geht es um pandemiebedingte Investitionen in Kultureinrichtungen. Mit Mitteln in Höhe von bis zu 250 Millionen Euro wollen wir Kultureinrichtungen, die überwiegend privat finanziert werden, fit für die Wiedereröffnung machen. Ob Museen und Theater, Gedenkstätten und Galerien, Kinos und Musikclubs: Sie alle müssen zeitnah Hygienekonzepte und Abstandsregeln umsetzen und dafür erhebliche Summen investieren, sei es für Online-Ticketing-Systeme, für die Modernisierung von Belüftungssystemen oder eine andere Besucherführung und Bestuhlung.

 

Zweitens wollen wir mit 480 Millionen Euro finanzielle Unterstützung für vor allem privatwirtschaftlich finanzierte kleinere und mittlere Kultureinrichtungen und -projekte leisten. Kleine und mittlere Kultureinrichtungen haben in der Corona-Zwangspause besonders starke Einnahmeeinbrüche erlitten. Gleichzeitig laufen ihre Kosten weiter. Mit diesen Mitteln schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass die Kreativen aus der Kurzarbeit herauskommen und ihrer künstlerischen Arbeit nachgehen können. Außerdem wollen wir Möglichkeiten eröffnen, neue Aufträge an freiberuflich Tätige und Soloselbständige zu vergeben.

 

Einen Betrag von bis zu 150 Millionen Euro werden wir, drittens, für die Förderung alternativer, insbesondere digitaler Angebote bereitstellen. Denn trotz der vielfach existenzbedrohenden Folgen, die die Pandemie gerade für den Kulturbereich hat, lässt sich der Krise zumindest ein positiver Aspekt abgewinnen: Sie hat einen gewaltigen Kreativitätsschub beim Einsatz alternativer, vor allem digitaler Formate ausgelöst. Wir wollen diese Kräfte stärken, damit der Kulturbereich dauerhaft davon profitieren kann.

 

Viertens werden wir bei durch mein Haus bereits regelmäßig geförderten Einrichtungen coronabedingte Einnahmeausfälle und Mehrausgaben ausgleichen, die nicht anderweitig gedeckt werden. Bei gemeinsam mit Ländern bzw. Kommunen getragenen Einrichtungen und Projekten wird der Bund seinen Anteil an der Kofinanzierung leisten. Dafür stehen 100 Millionen Euro zur Verfügung.

 

Fünftens sind Bundeshilfen in Höhe von 20 Millionen Euro für private Hörfunkveranstalter vorgesehen. Sie sind durch das Wegbrechen der Werbeeinnahmen schwer getroffen und haben angesichts des enormen Informationsbedarfs der Öffentlichkeit unverändert hohe Personalkosten.
Alles in allem ist „NEUSTART KULTUR“ ein wichtiger und kraftvoller Schritt zur Bewahrung unserer vielfältigen Kulturlandschaft. Dass im Koalitionsausschuss am Ende der harten Verhandlungen für Kultur und Medien eine Eins mit neun Nullen herausgekommen ist – das größte Konjunkturprogramm für Kultur und Medien in der Geschichte der Bundesrepublik –, offenbart den hohen gesellschaftlichen Stellenwert, den die Bundesregierung Kultur und Medien beimisst. Wir wollen unser Möglichstes dafür tun, die zerstörerischen Wirkungen der Corona-Krise zu lindern und schöpferische Kräfte zu mobilisieren – in der Überzeugung, dass wir der Kunst wie auch der Kultur- und Kreativwirtschaft jene Inspiration und Irritationen verdanken, aus denen Innovationen entstehen, in der Überzeugung also, dass gerade in der Kultur die Zukunftsmusik spielt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.


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