Ludwig Greven - 28. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Fernweh – Nahglück


Schönes in der Nähe entdecken

Die Corona-Pandemie hat neben schrecklichen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen auch zwei höchst bedauerliche Kollateralschäden hervorgerufen. Zum einen wetteifern die Staaten selbst der EU gegen ein Virus, das alle Länder und Kontinente heimsucht, mit nationalen Mitteln. Also genau das Gegenteil dessen, was erforderlich wäre. Ein kolossaler Rückschritt. Zum anderen haben sie als Ausdruck dessen ihre Grenzen geschlossen, und zwar meist zu einem Zeitpunkt, als das Virus längst überall war. In Deutschland gab es, 30 Jahre nach der Einheit, sogar wieder innerstaatliche Reisebeschränkungen. Es hätte nur noch gefehlt, dass Touristen, die in ein anderes Bundesland fahren wollten, von Grenzschützern zurückgehalten worden wären.

 

Dabei verlangt eine globale Epidemie wie jede weltweite Bedrohung, auch und gerade der Klimawandel, grenzüberschreitende “inter-nationale” Solidarität und Zusammenarbeit. Die Reisefreiheit ist zudem gerade in Deutschland ein wichtiges demokratisches Gut, da sie den Menschen in der DDR bis 1989 verwehrt war. Grenzen zu überschreiten und die Welt zu entdecken, ist seit jeher Ausdruck menschlicher Sehnsucht nach Ferne, nach Neuem, nach ganz anderem, nach dem Erleben fremder Regionen, Kulturen und der Menschen dort. Oder schlicht nach Sonne, Bergen, Meer und Strand. Wer möchte sich das nehmen lassen?

 

Stattdessen mussten z. B. Hamburger erleben, dass sie nicht zu ihrer Ferienwohnung, ihrem Häuschen in Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern durften, obwohl sie dort oft seit Langem große Teile des Jahres verbringen. Oder Freunde von mir, die vor einem Jahr im Ruhestand von Berlin an die Ostsee gezogen sind, dass jeden Tag die Polizei bei ihnen auftauchte, weil sie ihr Auto noch nicht umgemeldet haben und Nachbarn das Fahrzeug mit dem “fremden” Kennzeichen meldeten. Als Blockwarte 2020. Von Reisen nach Frankreich, Italien, Spanien oder Österreich nicht zu reden. Die pure Möglichkeit, den Urlaub am Mittelmeer oder in fernen Landen zu verbringen, mal eben am Wochenende nach Rom, Budapest, Paris oder New York zu jetten oder zum Skifahren nach Tirol oder Davos zu fahren, auch wenn das sich längst nicht jeder leisten kann –und jetzt noch will –, erzeugt eine gewisse Egalität, die unsere Wohlstandsgesellschaft trotz aller sozialen Unterschiede hervorgebracht hat. Früher hatten nur Reiche und Adlige, Händler, Seefahrer, Forscher und Literaten wie Marco Polo, Christoph Kolumbus, Humboldt oder Goethe das Privileg, fremde Gestade zu bereisen. Das gemeine Volk kannte keinen Urlaub, keinen Jetset. Es kam oft nicht weiter als bis zum nächsten Dorf, zur nächsten Stadt. Als dann die ersten westdeutschen Nachkriegstouristen die Adria, den Gardasee und Mallorca eroberten, bewies dies, dass auch für Normalbürger Klassengrenzen und die Alpen zu überwinden waren. Heute sind Flugreisen in die ganze Welt für viele normal, obwohl es dem Klima schadet, auch wenn die Mehrheit auch in Nicht-Corona-Zeiten den Urlaub im eigenen Land oder in Europa verbringt, schon aus finanziellen Gründen. Oder gar nicht verreist.

 

Vielleicht erkennen jetzt manche, die sonst regelmäßig ihr Sommer-Sonne-Strand-Quartier an der türkischen Riviera buchen oder im Winter auf Fuerteventura, dass es auch daheim im eigenen Land, in der eigenen Region, notfalls auf der eigenen Terrasse, dem eigenen Balkon schön und erholsam sein kann, mit und ohne Singen vom Balkon. Ohne Reisestress und Wetteifer mit anderen, wer das attraktivere, exklusivere, abenteuerlichere, günstigere Ziel gewählt hat. Zynisch könnte man sagen: Der Klimawandel und die wärmeren, trockeneren Sommer machen den Verzicht auf Fernreisen leichter. Nicht nur in Corona-Zeiten. Zur Not kann man sich ja paradiesische Landschaften und Sonnenuntergänge am Strand, exotische Bilder oder solche von der Pizza bei “Alfredo” auf Capri statt hinterher auf dem eigenen Handy im Internet anschauen.

 

Wie ich schon einmal in dieser Kolumne beschrieben habe, lebe ich seit zwei Jahren am Rand von Hamburg, direkt am Wald, der Heide und den Harburger Bergen, dort, wo einst Hanseaten ihre Sommerfrische verbrachten. Seit ich dort wohne, verspüre ich weniger Lust, woandershin zu reisen. Nicht, weil ich schon alles gesehen hätte. Sondern weil es hier einfach nett ist und ich, wenn ich mit meinem Hund umherstreife, jeden Tag Neues entdecke. Und weil Verzicht befreiend wirken kann. Frische Luft, Ruhe, Natur, ein Reh im Vorgarten, Elbe und Meer nicht weit, dazu ein breites Kulturangebot, wenn es nicht gerade wie jetzt geschlossen ist: Brauche ich mehr?

 

Im August möchte ich dennoch mit Freunden eine Hüttentour in den österreichischen Alpen machen, um echte Berge zu erleben. Und hoffe, dass bis dahin die Grenzen und Berghütten wieder offen sind. Denn die Freiheit möchte ich mir nicht nehmen lassen. Auch nicht die zu reisen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.


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