Wolfgang Schneider - 28. August 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Europas Kulturhauptstadt unter Corona-Bedingungen


Rijeka 2020 versucht sich als „Port of Diversity“

Im Merian-Reiseführer Kroatien von 2007 erfährt man über Rijeka: „Die Stadt liegt an der Mündung des Flusses Rijecina und bietet dem Besucher nur wenige Attraktionen“. Von „Platzproblemen“ zwischen Gebirge und Meer ist zu lesen und von „chaotischen und dauerlärmenden Individualverkehr“. Wichtig sei der Busbahnhof, von dem aus die Region erreicht werden könne, z. B. die Inseln Krk, Cres und Losinj, Letztere Ausgangsort unseres Tagesausfluges am 27. Juli dieses Jahres in die Europäische Kulturhauptstadt 2020. Rijeka hat sich um den Titel beworben und wurde neben Galway in Irland 2016 von einer Jury ausgewählt und hatte sich somit im Wettbewerb durchgesetzt gegen Dubrovnik, Osijek und Pula.

 

Wir wollten uns nicht nur ein aktuelles Bild von der Hafenstadt machen, sondern auch sehen, was die kommunale und nationale Politik der Einschätzung unseres veralteten Reiseführers entgegenzusetzen hat. Auf der Webseite war zu lesen, dass der Sommer viele „Events“ zu bieten habe. Und in der Tat, wenn man zudem das rund 500-seitige Programmbuch vom Januar 2020 durchblättert, finden sich viele Hinweise auf Hunderte von Veranstaltungen. Alle Verlautbarungen verkünden diese „Events“, die vor allem dem Ziel dienen sollen: die Förderung eines positiven Images. Das sagt der Bürgermeister als erstes Anliegen, das bekundet die Kulturministerin und es zieht sich wie ein roter Faden durch die Konzeption. Man möge das Kulturhauptstadtjahr mit starken Impressionen erleben, die künstlerischen und urbanen Interventionen im öffentlichen Raum wahrnehmen sowie an Aktionen teilnehmen. Wir konstatieren: Merian muss den Reiseführer wohl spätestens jetzt neu formulieren.

 

Auf dem Weg in die Innenstadt fahren wir an viel verfallener Bausubstanz vorbei, Hochhäuser von gestern, Sünden einer offensichtlich verfehlten Stadtentwicklung, stillgelegte Fabriken, die den wirtschaftlichen Niedergang dokumentieren. Deprimierend, hätte Rijeka nicht eine Fußgängerzone zwischen Rathaus und Nationaltheater, hätte die Kulturhauptstadt Europas nicht das Hafenviertel: buntes Treiben, Handel und Wandel, eine Halle mit fangfrischem Fisch, eine mit Fleisch und eine mit Gemüse und Obst. Dazwischen ein paar rote Fahnen mit dem Logo, viele auch vom Wetter gebeutelt. Gut vertaut, dümpeln dagegen die Yachten der Reichen, beladen werden die Frachter nach Übersee und das ganze Treiben hat etwas Weltoffenes. „Port of Diversity“ ist in der Tat das Motto – und das sollte gelebt werden. Wäre da nicht die Pandemie ausgebrochen, die alles Geplante zunichtegemacht hat.

 

Wir treffen Iva Sušić vom Organisationsbüro Rijeka 2020 zum Kaffee, der uns schmeckt wie auch ihr es schmeckt, endlich wieder von zukünftigen Veranstaltungen sprechen zu können. Sie überbringt das neue Give-away, einen Mund- und Nasenschutz. Denn mit Corona kam auch die Katastrophe des Lockdowns. Zunächst wurden alle 59 angestellten Kreative in den Urlaub geschickt und dann entlassen. Alle „Events“ wurden abgesagt; keine Chance also, ein neues Image zu kreieren. „Ab jetzt kommt der Herbst der Projekte“, sagt die PR-Verantwortliche mit neuem Vertrag. Und sie listet akribisch die Titel der sogenannten „Flagschiff-Programme“ auf: „The Kitchen of Diversity“, den Migranten und Minderheiten gewidmet, „Lungomare Art“, ein Parcours der Installationen zeitgenössischer Kunst, „27 Neighbourhoods“, Kooperationen mit lokalen Gemeinschaften aus den Mitgliedsstaaten der EU.

 

Was können wir davon sehen? Noch nichts! Das „Kinderhaus“ harrt der Eröffnung, die Bibliothek sei mit dem Umzug beschäftigt, das Theater noch ohne Spielplan. Iva Sušić verweist aber auf großformatige Fotos einer Workshop-Woche mit Kindern. Und auf „Ribub“, einen neuen Ort der Kooperationen freischaffender Künstler, dieses Jahr kostenlos, nächstens dann gegen Miete; leider derzeit nicht zugänglich. Dann könnten wir doch in das Museum für zeitgenössische Kunst gehen? Geht auch nicht! Heute ist Montag und da haben Museen, nicht nur in Rijeka geschlossen.

 

Welch eine Tragödie, denken wir, auch in Kenntnis des großartigen Bid-Books und eines programmatischen Beitrags von Irena Kregar Šegota und Kolleginnen im Sammelband „Transforming Cities. Paradigms and Potentials of Urban Development within the European Capital of Culture“ (Hildesheim 2019). Dort hat die gerade berufene neue Direktorin des Kulturhauptstadtjahres dargelegt, was alles möglich gemacht werden sollte. Es gälte, die kulturelle Infrastruktur nachhaltig zu entwickeln, die Teilhabe der Zivilgesellschaft zu stärken und das künstlerische Potenzial mit Arbeitsstipendien, Weiterbildung und Vermittlungsprojekten zu fördern.

 

„Anspruch und Wirklichkeit klaffen meilenweit auseinander“, kritisiert die promovierte Kulturmanagerin Vitomira Lončar aus Zagreb. Sie spricht auf YouTube an, was viele denken: „Warum wurde die Krise nicht als Chance genutzt?“ Während die weltweite Kulturlandschaft auf digitale Angebote gesetzt hat, habe Rijeka 2020 ein Plan B gefehlt. Auf der Homepage sieht man den Bürgermeister im Kreise seiner Mitarbeiter, die mehr verkünden als handeln.

 

Wir sind an diesem Tag ernüchtert, geben aber für die nächsten Wochen die Hoffnung nicht auf. Denn weiterhin alles zu verschieben, verbietet sich; nächstes Jahr gibt es zwei neue Kulturhauptstädte in Europa. Bleibt die Erkenntnis, den Fokus auf Events zu überdenken, den Imageanspruch für eine strukturelle Entwicklung in Angriff zu nehmen, um nachhaltige Wirkungen zu erzielen. Die Binsenweisheit aller bisherigen Veranstalter seit 1985 ist: Nicht das Feuerwerk zur Eröffnung wird bleiben, sondern ob die Stadt sich auch in den Folgejahren als Kulturkapitale in Europa behauptet und sich als Standort für kreative Vielfalt etablieren konnte.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.


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