„Es geht definitiv mit mehr Besuchern“

Der Intendant der Brandenburger Festspiele, Manuel Dengler, über die Folgen der Corona-Beschränkungen für Festivals

Mitte September versammeln sich fröhlich gestimmte Menschen bei schönstem Sonnenschein vor einer Schlossruine im Städtchen Freyenstein, eine Autostunde von Berlin entfernt, um Operettenlieder zu hören, aufgeführt vom Brandenburger Festspielorchester mit einer Sängerin aus Frankreich und einem kanadischen Sänger. Es ist erst das sechste von eigentlich 42 geplanten Konzerten der Festspiele. Statt 350 dürfen nur 130 Zuhörer kommen, das Orchester wurde von 40 auf 10 Musiker verkleinert. Aber die Bewohner freuen sich, in diesem Corona-Spätsommer an diesem schönen Ort Musik genießen zu können, und die freiberuflichen Musiker, endlich wieder einmal auftreten zu dürfen. Am Allermeisten aber freut sich Festspielleiter Manuel Dengler, der selbst dirigiert und sich bis zur letzten Sekunde mit dem Präsidenten Walter Schirnik um die Organisation bis zum Ticketverkauf kümmert.

 

Ludwig Greven: Als Sie zu Jahresbeginn die Intendanz der Brandenburger Festspiele übernahmen, hatten Sie sicher eine Menge Pläne, nicht ahnend, dass die Pandemie kurz danach alles über den Haufen werfen würde.
Manuel Dengler: So ist es. Ich war schon seit Mitte 2018 in diversen Vorläuferstrukturen aktiv, und wir haben langfristig auf unsere Premierenspielzeit in 2020 hingearbeitet. Seit Januar bin ich nun Intendant der Brandenburger Festspiele, die wir in professioneller Struktur neu aufgestellt haben. Unser Ziel: Wir wollen ein landesweites Kulturfestival als echtes Landesfestival etablieren mit ganzjährigen Veranstaltungen, genreübergreifend mit dem Fokus Klassische Musik und mit Spielorten jeglicher Art: Schlösser, Industriedenkmäler, in der Natur. Die Programme entwickeln und setzen wir mit lokalen Partnern um. So wollen wir lokale und regionale Potenziale mit künstlerischen Mitteln erzählen. Programm-Highlights sind internationale Stars, kombiniert mit Brandenburger Künstlern, in, aus und für die einzelnen Regionen. Für die lokale Verankerung sorgt unser Festspielrat. Für den konnten wir zahlreiche Landräte, Bürgermeister, Kulturdezernenten und kulturelle Akteure in ganz Brandenburg gewinnen. Dem Kuratorium gehören neben Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, dem Pianisten Christoph Eschenbach und Sarah Wedl-Wilson, der neuen Rektorin der Hochschule für Musik Hanns Eisler, Personen aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen an. In jeder Hinsicht war das also eine Premierenspielzeit.

 

Aber dann kam die Pandemie.
Damit war alles auf Null gesetzt. Unsere schönen Pläne waren dahin. Wir mussten alle lange vorbereiteten Konzerte absagen oder verschieben. Keiner wusste, wie es weitergeht. Wir haben uns dann zusammengesetzt, mit den Behörden und den lokalen Partnern gesprochen und überlegt, was unter den veränderten Bedingungen überhaupt möglich wäre. Eine Idee war, andere Formate zu finden und einen Truck als mobile Bühne übers Land zu schicken, um in einzelnen Orten Auftritte unter freiem Himmel von diesem Lkw aus möglich zu machen. Das gelang erstmals Anfang Juni, weitere Veranstaltungen ab Ende Juli folgten. Von den geplanten 42 Konzerten werden wir bis Jahresende ein gutes Dutzend abhalten können, allerdings mit sehr reduzierter Zuhörerzahl und wesentlich kleineren Ensembles. Dafür müssen zum Teil die Stücke neu arrangiert werden. Alles große Herausforderungen für unser kleines Team.

 

Welche Auswirkungen haben die Absagen und das arg reduzierte Programm für Ihren Etat?
Das lässt sich schwer beziffern, denn die Bedingungen ändern sich immer noch ständig. Ein Beispiel: Für ein Musikausbildungsprojekt bekommen wir Fördermittel aus einem Programm der BKM. Diese Mittel müssen in diesem Jahr 2020 ausgegeben werden und können nicht ins nächste Jahr mitgenommen werden. Dem steht aber die Auflage aus dem Brandenburgischen Bildungsministerium entgegen, dass Kinder im Schulunterricht nicht singen dürfen. Vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur hingegen wurden Laienchöre aufgefordert, wieder ihren Probenbetrieb aufzunehmen. Da unser Projekt aber an den Schulunterricht gekoppelt ist, können wir das nicht wie geplant durchführen. Da muss es unbedingt einheitlichere Regelungen geben.

Grundsätzlich setzt sich unser Etat aus Geldern der Landesregierung, aus Förderprogrammen, von Stiftungen, Sponsoren, Landkreisen und Kommunen zusammen. Gerade als neues Festival kann man häufig erst im Laufe des Programms Sponsoren und Unterstützer gewinnen. Das wurde natürlich extrem durch Corona beeinträchtigt, viele Unternehmen müssen ihre Gelder beisammenhalten. Von Stiftungen und der öffentlichen Hand haben wir sehr viel Entgegenkommen erfahren, teils haben wir Extrafördermittel erhalten, wenn Gelder an anderer Stelle nicht abgerufen wurden. Trotzdem sind wir hochgradig auf Einnahmen aus den Ticketverkäufen angewiesen, die nun extrem reduziert ausfallen.

 

Wie viele feste und freie Mitarbeiter haben Sie jetzt, und wie viele wären es ohne Corona gewesen?
Unser Festival lebt durch unsere Kooperationspartner, die teils in eigenen Strukturen finanziert sind oder sich in viel Fleißarbeit ehrenamtlich für unsere gemeinsamen Projekte einsetzen. Unser Kernteam ist klein – aktuell sind wir zu dritt. Es war geplant, noch zwei weitere Mitarbeiter im Verlauf dieses Jahres einzustellen, was aber vor dem Hintergrund der finanziellen Gesamtlage und der Auflagen der Agentur für Arbeit – Stichwort Kurzarbeitergeld – nicht möglich war.

 

Was bedeuten die Absagen für die meist freien Musiker und die Veranstaltungsorte?
Für die Musiker sind das herbe Einschnitte, weil einige leider doch durch das Raster der Hilfsmaßnahmen fallen oder diese zu gering ausfallen. Deshalb versuchen wir, so viele Konzerte wie möglich durchzuführen, soweit das für uns tragbar ist. Für die Veranstaltungsorte ist es in den meisten Fällen einfach sehr schade, wenn eine lang geplante Veranstaltung nicht stattfinden kann – besonders, wenn viel Herzblut durch ehrenamtliche Arbeit drinsteckt.

 

Wie sehen Ihre Planungen für 2021 aus? Rechnen Sie damit, dass es dann noch Beschränkungen geben wird?
In Brandenburg sind die Corona-Fallzahlen aktuell zum Glück recht überschaubar. Das stimmt uns optimistisch, dass wir 2021 wieder mehr Besucher erwarten können. Wir planen fürs erste Halbjahr Veranstaltungen, die sich kostenmäßig günstig realisieren lassen, und legen größere Projekte in die Open-Air-Saison. Allerdings muss man sehen, dass es im Sommer ohnehin schon ein großes Angebot gibt und man sich nicht gegenseitig als Kulturschaffende unnötig Konkurrenz macht. Das benötigt eine gute Abstimmung und hoffentlich neue Zusammenarbeit.

Kooperieren Sie mit Festspielen in anderen Ländern? Wie haben die reagiert?
Unser Fokus liegt darauf, dass wir uns erst mal in unserem Einzugsgebiet gut verwurzeln und mit den hiesigen Akteuren zusammenarbeiten. Wir haben aber auch länderübergreifende und internationale Kooperationen für die nächsten Jahre geplant und sind hier teils auch schon in der Projektentwicklung. Gleich zu Beginn der Pandemie haben sich 40 Festivals in Deutschland im Forum Musik Festivals organisiert und gemeinsam Forderungen an die Bundesregierung und die Länder gestellt. In Folge gab es zahlreiche Online-Sitzungen, in denen wir uns über Hygienekonzepte und alle Konsequenzen für Festivals ausgetauscht haben. Das habe ich als sehr gewinnbringend empfunden. Allerdings stellt man auch hier fest, dass trotz dieses großen Engagements leider wenige Forderungen besonders auf Bundesebene umgesetzt wurden.

Die Reaktionen der Festivals waren sehr unterschiedlich, da die Finanzierung sehr unterschiedlich gelöst ist und man bei aller Kreativität im Leitungsteam doch immer davon abhängig ist, was finanziell getragen werden kann.

 

Die Pandemie hat immerhin dazu geführt, dass vielen bewusst geworden ist, wie unverzichtbar Kultur und Musik gerade in Krisenzeiten sind.
Es fällt mir schwer, das positiv zu werten, da die Folgen der Coronakrise katastrophal sind. Viele Kreative sind emotional und psychisch in sehr bedenkliche Zustände geraten, weil von heute auf morgen völlig unklar ist, wie sich die Umstände von teils jahrzehntelanger Arbeit in Zukunft gestalten werden. Ich bin überzeugt, dass Kultur ein unglaubliches Aktivierungspotenzial besitzt und ein wichtiger Motor gesellschaftlicher Entwicklungen ist. Allerdings glaube ich, dass sich das Bewusstsein für die Unverzichtbarkeit von Kultur, wie wir es gerade wahrnehmen, auch wieder ganz schnell verflüchtigen kann. Es liegt an uns Kulturschaffenden, unabhängig von einer Pandemie, Kultur stärker zu politisieren – ohne politische Couleur – und gesellschaftliche Relevanz zu schaffen. Nähe in Zeiten von notwendiger Distanzierung zu generieren ist eine Riesenherausforderung.

 

Waren und sind die Beschränkungen aus Ihrer Sicht alle notwendig und berechtigt?
Die Pandemie hat die gesamte Weltbevölkerung vor eine nicht gekannte individuelle und kollektive Verantwortung gestellt. Ich bin kein Virologe und kann daher nur schwer beurteilen, welche Maßnahmen im Einzelnen gerechtfertigt waren und sind. Allerdings stimmt es mich schon nachdenklich, dass man mit nur 80 Personen im Konzertsaal sitzt und anschließend beim Italiener um die Ecke sich mit genau diesen 80 Personen zu bereits 70 speisenden Gästen dazusetzen darf. An dieser Stelle merkt man, dass die Lobby der Kultur im Verhältnis zu anderen Branchen schwach ist. Bei Kulturveranstaltungen hat man in der Regel ein sehr verantwortungsvolles Publikum und gute Möglichkeiten, Hygienekonzepte konsequent umzusetzen. Das geht definitiv mit mehr Besuchern, als es derzeit an vielen Stellen erlaubt ist. Sonst läuft das alles in einen wirtschaftlichen Irrsinn.

 

Wie sind Sie auf die Idee mit dem Musik-Truck gekommen?
Für uns war klar: Wenn die Menschen nicht zur Musik kommen dürfen, bringen wir die Musik zu den Menschen. Auf einer mobilen Bühne Musik zu machen ist ja nichts ganz Neues, auch andere Veranstalter haben das aufgegriffen. Ende Mai sind wir auf unsere Partner zugegangen und haben das Konzept vorgestellt. Innerhalb von weniger als zwei Wochen haben wir alles umgesetzt und den Brandenburger Festspieltruck ins Elbe-Elster-Land geschickt. Das war nur möglich, weil alle von Landrat über Sparkasse bis hin zu Polizei und Ordnungsamt gemeinsam an einem Strang gezogen haben und ermöglicht haben, dass wir verschiedene Kulturhaltestellen anfahren und mit einem Flügel Klaviermusik präsentieren konnten. Wir haben zahlreiche interessierte Regionen für weitere Kulturhaltestellen und sind in konkreter Planung. Aber auch da hängt ein Rattenschwanz an Finanzierungsfragen und Genehmigungen dran.

 

Werden Sie die mobile Bühne auch nach der Pandemie einsetzen?
In Zukunft möchten wir den Truck als mobile Akademie nutzen, um verschiedene Vermittlungsangebote besonders im ländlichen Raum zu ermöglichen. In Brandenburg haben wir keine Musikhochschule, die Kluft zwischen musischer Erziehung und der professionellen Ebene ist häufig sehr groß. Außerdem wollen wir noch stärker lokalen Künstlern gemeinsam mit international bekannten Künstlern eine Bühne geben. Die regionale und mediale Aufmerksamkeit ist bei einer solch außergewöhnlichen Bühne groß. So erreichen wir Menschen, die sonst eher Berührungsängste mit Kulturveranstaltungen haben, und holen sie in ihrer Lebenswelt ab.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Manuel Dengler & Ludwig Greven
Manuel Dengler ist Dirigent, Bratschist, Kulturmanager und Intendant der Brandenburger Festspiele. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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