Die Vielfalt unseres Kulturangebots steht auf dem Spiel

Die Corona-Pandemie trifft die Veranstaltungswirtschaft besonders hart

Kein Konzert des New York Philharmonic, des Boston Symphony Orchestras oder auch von Lady Gaga und Elton John wäre denkbar ohne die Arbeit der Konzertveranstalter und Vermittler. Sie tragen das Risiko, dass ihre Künstler selbst bei verlustreich laufenden Veranstaltungen die vereinbarten Honorare erhalten. Und sie tragen alle Kosten der Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen. Dazu zählen Reise- und Hotelkosten, die Erfüllung der immer umfangreicher werdenden technischen Anforderungen, die Werbungskosten und Anzeigen, die Kosten der Anmietung der Spielstätten sowie Personalkosten und viele weitere. Veranstalter, aber auch die zur Veranstaltungswirtschaft zählenden Künstleragenturen, die nicht nur für den „Verkauf“ von Künstlern an Veranstalter zuständig sind, sondern es auch als ihre Aufgabe betrachten, die Traditionen und Besonderheiten der einmaligen deutschen Kulturszene zu schützen und zu pflegen, sind Motor für den Aufbau neuer Talente und Garanten der Vielfalt unseres Kulturangebots.

 

Veranstalter und Vermittler sind aber auch Auftraggeber einer großen Zahl von Dienstleistungsbetrieben, deren Inhaber und Arbeitnehmer von dem Stattfinden von Veranstaltungen wirtschaftlich abhängig sind. Gemäß der ersten im Jahr 2015 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie zur deutschen Musikwirtschaft leben von der Veranstaltungswirtschaft rund 32.600 Erwerbstätige. Dabei handelt es sich um rund 30.000 abhängig bzw. geringfügig Beschäftigte. Auch die indirekten Ausstrahlungen von Veranstaltungen sind, wie sich aus der Studie ergibt, insbesondere im Bereich des Musiktourismus erheblich: So summieren sich z. B. die durch Musikveranstaltungen induzierten Ausgaben in Städten und Gemeinden auf rund 5 Milliarden Euro pro Jahr.

 

Infolge der Schutzmaßnahmen vor der Infektionsgefahr durch das Coronavirus und die angeordneten Veranstaltungsverbote ist nicht nur das Geschäft der Konzert- und Festivalveranstalter sowie Vermittlungsagenturen, sondern auch aller von ihnen wirtschaftlich abhängigen Dienstleister ebenso wie der Spielstättenbetreiber vollständig zum Erliegen gekommen. Seit dem 8. März 2020 gibt es in Deutschland ein Veranstaltungsverbot, welches vorläufig mindestens bis Ende August 2020 andauern wird. Allerdings wird man bei realistischer Betrachtung wohl davon ausgehen müssen, dass bis Ende des Jahres Veranstaltungen mit geringfügigen Ausnahmen nicht stattfinden werden.

 

Vorweg: Veranstalter haben absolutes Verständnis dafür, dass Veranstaltungen momentan in gewohnter Form untersagt sind und dass der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung uneingeschränkten Vorrang haben muss. Dennoch muss die Veranstaltungswirtschaft als wesentlicher Teil des Kulturbetriebs unseres Landes darauf hinweisen, dass ein Großteil ihrer Unternehmen befürchtet, die aktuelle Krise wirtschaftlich nicht zu überstehen. Damit wird die Vielfalt des gewohnten Kulturangebots auf deutschen Bühnen erheblichen Schaden nehmen, sofern entstandene und noch entstehende Schäden nicht kompensiert werden.

 

Zunächst besteht ein aktuelles, aber eigentlich lösbares Problem nicht nur der Veranstalter, sondern z. B. auch der Theater, Filmtheater, Spielstättenbetreiber, Messeveranstalter und zahlreicher anderer Branchen der Kultur- und Kreativwirtschaft darin, dass in der Pressekonferenz der Bundeskanzlerin am 8. April 2020 zwar erklärt wurde, dass „Großveranstaltungen“ weiter verboten bleiben. Bis heute ist allerdings nicht klar, wann es sich um eine „Großveranstaltung“ handelt. Die Definition soll den einzelnen Bundesländern überlassen bleiben. Aber nur Schleswig-Holstein hat bisher angekündigt, dass Veranstaltungen von bis 1.000 Besuchern erlaubt seien, wobei allerdings Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden müssen. Diese sind aber weder in Schleswig-Holstein noch in anderen Bundesländern konkretisiert worden. Dabei würden viele der bereits angekündigten Veranstaltungen in Musikclubs, aber auch kleinere Comedy-Veranstaltungen und Schauspiel- oder Musicaltourneen stattfinden können, wenn sich die Länder zu den Voraussetzungen endlich geäußert hätten. Aber es besteht momentan völlige Unsicherheit darüber, zu welchen Konditionen dies möglich sein könnte. Wir hören aus der Politik nur, dass Hygienevorschriften eingehalten werden müssen. Wie die aussehen sollen, weiß niemand. Natürlich muss klar sein, dass wenn zwischen zwei Besuchern stets eineinhalb Meter Platz bleiben muss, nur jeder dritte Platz und jede zweite Reihe besetzt werden kann. Man müsste für ein Konzert mit 1.000 Besuchern eine Halle mit einer Kapazität für 3.000 bis 4.000 Personen mieten. Das rechnet sich nicht und ist auch nicht durchführbar. Solange es keine klaren Ansagen vonseiten der Politik gibt, müssen Veranstaltungen im Vorverkauf gehalten werden, weil die Verträge mit den Künstlern, dem Veranstaltungsort, den beteiligten Dienstleistern, vor allem aber dem Publikum gültig bleiben. Veranstalter können Veranstaltungen, die voraussichtlich nicht stattfinden dürfen, nicht einfach absagen, da sie sonst von Künstlern und beauftragten Dienstleistern, nicht zuletzt aber auch von den Karteninhabern auf Vertragsbruch in Anspruch genommen werden könnten.

Die Veranstaltungswirtschaft ist durch die Auswirkung der Krise im Vergleich zu der produzierenden Wirtschaft besonders hart betroffen, da es sich bei Konzerten oder sonstigen Veranstaltungen um „hochverderbliche Ware“ handelt. Veranstaltungen sind Fixgeschäfte, die vertragsgemäß ausschließlich am angekündigten Termin stattfinden können. „Nachholkonzerte“ gibt es nicht, sondern es handelt sich dabei um neue Veranstaltungsangebote, mit deren Durchführung alle Vorkosten erneut anfallen. Veranstalter bieten nicht, wie z.B. Autohersteller, ein Produkt an, welches in einem halben Jahr noch genauso viel wert ist. Der Veranstalter hat für jede abgesagte Veranstaltung bereits kostenintensive Leistungen erbracht, die nach Ablauf des Konzerttages nichts mehr wert sind. Ein weiteres Sonderproblem besteht ferner darin, dass der Vorverkauf für Veranstaltungen inzwischen vollständig zum Erliegen gekommen ist. Und niemand sollte erwarten, dass die Nachfrage nach Konzerten ab September auch nur annähernd den gewohnten Umfang erreichen wird. Derzeit ist es bereits ausgeschlossen, Veranstaltungen für die Zeit nach dem Shutdown zu planen. Viele Hallen lassen sich für die kommenden Monate gar nicht mieten, weil die Betreiber zunächst Klarheit haben wollen, wie es weitergeht.

 

Der Bund hat ein beeindruckendes millionenschweres Soforthilfeprogramm aufgelegt. Aber die Maßnahmen helfen in der Notsituation, in der sich die Veranstaltungswirtschaft derzeit befindet, leider nur in Ausnahmefällen. Der Gewinn von Veranstaltern beträgt gemäß einer Erhebung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) aus dem Jahre 2009 durchschnittlich sieben bis acht Prozent ihrer Einkünfte. Die Rückzahlungsverpflichtung von Krediten in aktuell benötigter Höhe können daher – vor allem angesichts der entstehenden Schäden – nur wenige Unternehmen seriös eingehen. Von 9.000 Euro Soforthilfe lässt sich allenfalls die Büromiete für die kommenden Monate zahlen. Laufende Betriebskosten und vor allem die Verbindlichkeiten, die für die Vorkosten jedes ausgefallenen Konzertes entstanden sind, können damit nicht kompensiert werden. Oft reichen die Soforthilfen nicht einmal für die Zahlung der Mitarbeitergehälter, die zumeist nicht in Kurzarbeit geschickt werden können. Denn die Veranstalter brauchen aktuell für die Rückabwicklung der ausfallenden Konzerte sogar mehr Personal. Daher unterscheidet sich die Problemlage im Veranstaltungsbereich erheblich von der Situation vieler anderer Wirtschaftsbereiche.

 

Das Überleben der meisten Unternehmen der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft wird nur durch besondere Hilfsmaßnahmen gesichert werden können. Dazu haben die Verbände der Musikwirtschaft ein Papier vorgelegt, mit dem der konkrete Bedarf des gesamten Wirtschaftszweiges – und damit auch der Künstler – dargelegt wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Musikwirtschaft im Allgemeinen und die Veranstaltungswirtschaft im Besonderen bei den vielen Forderungen aus allen Bereichen der Wirtschaft nicht ein weiteres Mal als ein Bereich behandelt wird, der „am ehesten verzichtbar“ ist. Wer diese Auffassung vertritt und nicht erkennt, dass den Kulturschaffenden und damit den Veranstaltern – ganz schnell geholfen werden muss, muss wissen, dass er zukünftig auf einen großen Teil der bisher gewohnten Musikangebote in Musikclubs, Festivals und Theatern verzichten muss. Er sollte sich darüber im Klaren sein, welchen Schaden der Kulturbetrieb damit nehmen wird.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Jens Michow
Jens Michow ist Präsident des Bundesverbandes der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft (BDKV).
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